top of page
  • Autorenbildfussfassen

19.07.2022 - 14.08.2022

Aktualisiert: 8. Mai 2023

Trevi – Assisi – Perugia – Montefalco – Rom – Spoleto – Terni – Pissignano – Spello


8 Uhr morgens. Ich sitze auf einem Klappstuhl neben dem Eingang unseres Steinhauses. Dieses besitzergreifende „unseres“ ist durchaus berechtigt, denn die kommenden vier Wochen bewohnen wir diese Unterkunft. Aus dem Fenster schräg über mir drängen Gespräche auf Italienisch, die ich nicht verstehe, gleichwie eine Radiosendung, die ich ebenso wenig verstehe. Nicht durcheinander, wie man vermutet, sondern der frühen Stunden angepasst. Ein kaum wahrnehmbarer Lufthauch streift mich, wie die gelben Blumenköpfe, die aus den Zwischenräumen der Bodenplatten hervorsprießen. Die petrolfarbenen Fensterverschläge unserer Vermieterin sind geschlossen, die PACE-Flagge, hängt müde von der Dachrinne ihren Aufdruck verhüllend. Ich kenne ihn, weil ich gestern hier war, heute hier sein werde, wie auch morgen und das knapp einen Monat. Es ist die perfekte Zeit … wobei mir schwant, dass es eigentlich zu spät ist. Am liebsten würde ich vor dem ersten Sonnenstrahl, bevor er sich über die Hügel Umbriens wälzt, einen Spaziergang zwischen all den Olivenbäumen unternehmen und neue Aussichten auf Trevi gewinnen, stattdessen bin ich noch immer hier. Ich hätte einen Wecker stellen können, aber das geht mir gegen die Vernunft, da ich keinerlei Termine wahrzunehmen habe, dennoch wünschte ich hätte ihn gestellt. Anders betrachtet ist es gut so, denn damit habe ich Zeit mein Buch zu kontrollieren, ich muss auch noch die Zitate aus dem gelesenen Buch von Robert Pirsig festhalten, anfangen spanisch zu lernen (wo sonst außer in Italien?) und einen Apfel wollte ich ebenfalls abzeichnen. Ich verzweifle an den Gedanken zu wenig Zeit zu besitzen, obwohl ich nie mehr von ihr besaß. Ein anderes Besitzverhältnis, so wie ich dieses Haus zeitweise besitze. Es ist zu spät für einen Spaziergang, vielleicht morgen, dann stelle ich den Wecker und raffe meinen von der Hitze ermatteten Körper hoch, am liebsten würde ich aber weiterarbeiten und morgen alles beenden, was ich mir vornahm. Ein Spaziergang wäre dann nämlich wesentlich freier, so denke ich mir. Da kommt aus der nunmehr geöffneten Tür von Caroline, der Vermieterin, ihre Hündin Frida wie ein Bär treudoof auf mich zu getrottet, sie will zum Wassernapf, der direkt neben mir steht, aber stattdessen stuppst sie mit ihrer feuchten Nase nach mir … ich verstehe (das erste Mal an diesem Morgen) und streichle ihre struppige Mähne. Obwohl sie mich vom Schreiben abhält, ist es okay, denn ich bin einen Schritt weiter, auch ohne Spaziergang, ohne getane Arbeit, wenn ich in ihr wunderschönes Gesicht schaue. Wie wichtig sind schon Vorhaben?


Gewohnheiten gestalten ein Zuhause. Ich brauche weder das eine, noch das zweite, ich wehre mich aber auch nicht dagegen. Es ist diese sich einschleichende Routine beim Gang in den Ort Trevi dieselbe Strecke durch den Olivenhain zu gehen und dabei dem Pärchen zu begegnen, die ihren Hund ausführen, der Joggerin oder dem Alten mit seinem markant weißen Hut UND erkannt zu werden. Sie alle grüßten schon beim ersten Aufeinandertreffen freundlich als sähen wir uns seit Jahren täglich, trotzdem ist es anders, sie registrieren einen nicht als jemand, der seine Lust auf Sehenswürdigkeiten stillt, sondern sie eine Zeitlang begleitet, wenngleich dies nicht bedeutet nähere Gespräche anzufangen, wie auch? Regelmäßigkeit schafft Strukturen. Aus kurzen Gewohnheiten werden lange. Der erste Tag, an dem wir einen Ausflug unternehmen, führt uns nach Assisi, die Ahnung eines heiligen Pilgerorts bestätigend, welchen genügt einmalig gesehen zu haben. Das langgezogene Kloster erhebt sich über die Stoppelfelder, die von den Wegen durchschnitten werden und deren Saum blau-violette Kornblumen bilden. Ein Hase weist den Weg, Schwärme von Tauben, Nachfahren derer mit denen der Heilige Franziskus gar selbst sprach, hauchen der Landschaft Leben ein – eigentlich eine Szene, die Wiederholung verlangt. Später Perugia mit seinen Aussichten auf das umbrische Tal – genauere Beschreibung überflüssig – nur so viel: Ich will wiederkommen. Es gibt eben auch richtige Zeitpunkte für falsche Städte, denn eigentlich ist Perugia schnell erkundet, aber dennoch … vielleicht fehlt Beschreibbaren die Magie, die notwendig ist, sie öfters aufzusuchen– Unbeschreibbares stachelt dagegen die Neugier an.

Porta Sole, PERUGIA

Nebenbei: Ich denke, seitdem wir uns in Umbrien niederließen, vermehrt in Reimen. Nicht gerade meine Paradedisziplin, zeigt sie mir schmerzlich die Begrenztheit meines Wortschatzes und dennoch schreibe ich Gedichte, was ich aus dem erwähnten Grund eine Weile nicht tat, einfach weil ich glaube, mein derzeitiges Zuhause verdient eine besondere Würdigung. Mit Verspätung der letztmöglichen Bahnverbindung erreichen wir Trevi, dessen Lichter sich mit den Sternen des Nachthimmels verbinden, wir laufen an den Vorgärten vorbei, aus denen uns die bekannten Hunde anbellen. Auf dem von der Sonne erhitzten Asphalt klebt die unfertige Marmelade abgefallener Feigen, deren Süße die Dunkelheit parfümiert, ein paar Schritte noch, dann sehe ich die bunte Flagge, die Ankommen symbolisiert. Das Zutrittstor geöffnet, drängen die Tiere an uns, die nach ihren vermissten Streicheleinheiten begehren. Sie wissen, dass wir ihnen diesen Gefallen nicht schuldig bleiben – wir sind Zuhause.

Wenn die einzige Sorge ist, wie man die smaragd-schimmernde Mauereidechse aus dem Haus bekommt, dann kann richtiggenommen keine Rede von Sorgen sein. Tatsächlich hatte ich die aber auch in meinem alten Leben kaum, eher eine Dissonanz zwischen handeln und denken.

Veränderungen, wie die Aufgabe der Lohnarbeit, des festen Wohnsitzes, sowie die Loslösung aus sozialen Banden, führt nicht zur Negierung der Widersprüche, es modelliert sie. Jeden Abend fragt uns Caroline, was wir Aufregendes tagsüber taten. Wir erklären ihr wiederholt den Grund unseres Aufenthaltes – ein Versenken der Gedanken und eine Aufarbeitung – dennoch fragt sie weiterhin, sie kann nicht recht begreifen, was wir damit meinen.

Gestern kamen wir bloß raus um einzukaufen, wobei dazu erwähnt gehört, dass dieses „bloß“ vier Stunden dauerte, nichts aufregendes, ein gewöhnlicher Einkauf mit drei Kilometer hin und drei Kilometer Rückweg. Ich kaufte eine schrumplige Amalfi-Zitrone mit einem Zweig, weil ich sie zuhause abzeichnen wollte, was schließlich auch geschah. Das Zeichnen nimmt eventuell irgendwann die Position des Fotografierens ein, da sie ebenso andauernde Beobachtung verlangt. Spanisch lernen ersetzt am ehesten den Lesetrieb, obwohl ich lernen erst wieder lernen muss, deswegen versuche ich nebenbei Stufen von Hermann Hesse auswendig zu lernen. Dinge, Tätigkeiten, Denkweisen werden ersetzt, Widersprüche bleiben.

Bis kurz vor Mitternacht unterhielten Bianca und ich uns - gibt es zwei „Wollen“ in uns? Ein touristisches, welches angezogen wird von der Aura schöner Namen … Genua, Marseilles, Barcelona … und eines, welches Projekte beginnen, welches wild zelten, welches fremde Menschen kennenlernen möchte – am ehesten den Reiz des „Unbekannten“ bezeichnend? Eine Zwischenlösung, ein Kompromiss käme einem metaphorischen Zwitter gleich, den wir töten müssen. Wie wäre denn ein leichthändiger Umgang mit Geld und Geiz miteinander vereinbar?

Die Laterne stahlt auf das grobe unregelmäßige Relief der Steinmauer, ich erkenne in ihnen Hunde, Raubkatzen, sogar Einhörner und geharnischte Krieger, aber ich wüsste, sobald ich sie nachzeichnen wöllte, würden die Bilder verschwinden, neue würden auftauchen und mit dem nächsten Wimpernschlag verblassen. Bilder kommen und gehen, die Hausmauer bleibt. Gerne würde ich sie einreißen.


Der Hefeteig ruht in der quadratischen Fensternische. Im Hintergrund grummeln Gewitterwolken über Trevi, das sich vor diesen entwöhntem Naturschauspiel dennoch unbeeindruckt zeigt. Der Teig ist fertig. Wir stülpen die Schüssel und drücken ihn in Ermangelung eines Ausrollers mit den Fingern auf dem Blech platt. Unregelmäßigkeit vorbestimmt. Doch ich erkenne darin eine Landschaft, die der Umbriens auffällig ähnelt. Seichte Erhebungen wie Senkungen. Nach dem Ausbacken breiten wir die Glut der Sonne, die das Gewitter wieder auflöste, aus, nur nennen wir es Tomatensoße. Ein Klecks hier wie dort, sind wir die Götter, die nicht wissen, was sie tun. Auf den Kuppeln der Hügel streuen wir Ansammlungen von Häusern in Zucchini und Olivenformen und verbinden sie mit Dächern aus Balsamico-Zwiebeln.

Nie war die abendliche Luft erquickender als nach diesem Gewitter. Nie waren wir schwerer nach einem Mahl, denn eine Welt wiegt nun mal schwer. Wir sahen eine Mutter mit ihrem Sohn im Vorgarten Fangen spielen; alte Herren, die sich einen allabendlichen Treff am ausgedienten Sportplatz unter einer Eiche einrichteten und diskutierten; einen Mann, der seinen Hund Gassi führte, jedoch indem er in seinem röhrenden Fiat Panda nebenher fuhr und verschmitzt aus dem Fenster grinste; wir lernten Lino, einen acht Wochen jungen Kater kennen und schüttelten ihm zum Gruße das zierliche Pfötchen … ach, wie gerne würden wir uns auch diese Welt einverleiben, aber diese müssen wir uns anderweitig zu eigen machen, zum Beispiel in diesen Schriften.


Kirchengeläut erfüllt anmutig die Valle Umbra, das Tal, welches landwirtschaftlich streng in Raster aufgeteilt in der Morgenfrische badet. Ein Schritt auf diesen Teppich erfreut, mehrere ergeben eine Freude. Trevi weiß davon nichts. Das Bergdorf schläft noch immer, in meinem Rücken schrumpfend, weil ich mich stetig von ihm entferne. Die Gipfel des Gebirgskammes leuchten im Gleichschritt heller werdend. Darin besteht, gleichwohl ich es mir einbilden könnte, kein Zusammenhang. In Kürze taucht die Sonne auf, nimmt den Platz ein, den ehemals Kirchengeläut einnahm und zieht der Landschaft die verbleibenden Reste der Abenddecke fort. Das Raster bleibt das Raster, nur treten seine Grenzen dann wesentlich markanter hervor, auf denen ich mich fortbewege.

Sonnenblumenfeld, MONTEFALCO

Langsam beginnen Wasseradern zu fließen und Traktoren über die Äcker zu rattern. Noch immer herrscht ein Hauch von Schlaftrunkenheit. Die Heuballen beispielsweise, sie bleiben unbewegt. Manches verbirgt sich meinem Blick, ich sehe die Melonen nicht wachsen, so wenig wie die schon feisten Auberginen und sehe genauso die Tomaten nicht bis zur Schamesröte reifen. Ich beschreibe einen zerbrechlichen Moment ohne Bestand. Sind seine Scherben der Einteilung des Tals gleichzusetzen? Wer schreitet über sie hinweg beim Lesen dieses Textes? Wäre es ratsam aus Gründen der Vervollständigung die Zucchiniblüten zu erwähnen? Oder die Risse in den Straßen, die in den ausgetrockneten Sonnenblumenfeldern Fortsetzung finden? Es bleiben Bruchstücke eines Morgenspaziergangs und bevor ich mich verseh‘, bin ich in Montefalco, schau über die Flur aus Raster, dieses Puzzle, dem kein Stück fehlt. Zufrieden beiße ich in einen Pfirsich, dessen Saft mir vom Handgelenk tropft. Welcher Beschreibung habe ich ihn wohl entrissen?


Unsere Reise … ziellos sollte sie sein, keinem Plan folgend, außer dem einen spontanen Lustgefühl zu folgen, wo wir uns heute maximal morgen aufhalten würden. Doch der Anschluss an ökologische und soziale Projekte kennt den Kalender und weiß um freie Kapazitäten. Angebot und Nachfrage und letztere ist hoch, individuelle Bewerberschreiben, um Toiletten in den Pyrenäen putzen zu dürfen, aber wenigstens … nein, wir sind unterqualifiziert, aus unseren vagen Lebensläufen geht keine gleichgeartete Fähigkeit hervor … Antwort ausbleibend, Verdruss mit ihr - noch.

Das Buch „Abschluss eines Nonsenslebens“ wurde mittlerweile überarbeitet, von Bianca kontrolliert und zusammen fertiggestellt. Mit Verspätung belohnten wir uns dafür mit einen Ausflug nach Rom. Der Weg führte nach Spoleto aus dem breiten Tal durch ein üppig bewachsenes Nadelöhr bis kurz vor Terni, wo lose Gemeinden auf Erhebungen wucherten, an ihrer Spitze ein jedes Mal eine Kapelle (die Bezeichnung Kirche wäre hier übertrieben). Abgeschieden von der Welt, nah und doch so fern, wo kein Tourist das Dörfchen in seinem Reiseführer findet, wo kein Streetview-Vehikel von Google die holprigen (fast-)Straßen erkundete und ein Klick auf den Ortsnamen lediglich kryptische Koordinaten verrät. Das Bild, welches an mir vorbeirauscht und verschwindet wird zu einem Geheimnis, wie zwischen jedem der sein flüchtiges Dasein wahrnimmt. Witzigerweise wirkte Rom im Vergleich dazu klein, denn restlos erschlossen wirkt die ewige Stadt, die von der Terrazza del Pincio vor uns lag.

Ausladende Protzgebäude an jeder Ecke, Machtdemonstrationen sind sie, wie überall Skulpturen anzutreffen sind mit kriegerischen Szenen von einem Heror und seinem Besiegten, der vom Sockel gestoßen, gerade würdig genug ist, das Verhältnis als Gepeinigter für Ewigkeiten zu konservieren – so ist das nun mal. Die Stadt Rom, ein Kessel am Siedepunkt der zumutbaren Temperaturen, kochte alles in ihm befindliche Material. Aus historischen Gesichtspunkten ist sie nicht vegetarisch, sie verschmäht kein Fleisch, denn so hat sie ihre geschichtsträchtige Größe erlangt. Ich darf, was ich optisch wahrnehme, nicht zerdenken, muss es nehmen wie es sich mir zeigt: Der Petersdom im abendlicher Beleuchtungsgewand. Seine schönste Zierde jedoch war der Neumond, der exakt im Lot zu seiner Kuppel stand und gemeinsam eine impressionistische Verklärung auf der Wasseroberfläche des Tibers spiegelte, über dem sich die Musik der Myriaden Restaurants vermischte oder sang der Fluss gar selbst Oden?

ein ein Monat alter Schuh, ROM

Mein Schuh schlappte derweil, ein Montagsschuh (denn es war Montag!), dessen Kleber nachgab und die Schuhsohle allmählich fallen ließ. Ein Haargummi beseitigte das unplanmäßige Problem.

Am zweiten Tag stritten eine Ameise und eine Wespe um ein Körnchen unseres Vollkornbrotes. Wäre ich handwerklich begabter, wäre ich versucht gewesen, beiden Streithähne eine Skulptur zu widmen – Heror und Besiegter würden sie heißen, wenn ich denn wüsste, wer als Sieger aus dem Wettstreit hervorging. Stattdessen aßen Bianca und ich den Brotlaib zum Frühstück im Aquäduktpark auf. Planlos streiften wir durch Roms Außenbezirke, nicht verloren, aber … doch ein bisschen verloren waren wir schon. Dafür fanden wir am Straßenrand einen toten Dachs, länger als wir ihn sahen, rochen wir ihn – muss das sein? Fraglich, aber was sein musste, war, dass meine Schuhsohle komplett von mir ließ. Auch trotz zweiten Haargummi war keine Rettung mehr möglich und das kurz vor der Abfahrt in Rom-Termini.

Park der Aquädukte, ROM

Da! Die erste Antwort zu einer Projektanfrage! … Absage … wir freuen uns dennoch über die Reaktion, war sie ein Nachweis unserer Existenz. Was rede ich? Nicht zerdenken, Sandrino! Konzentriere dich lieber auf die optischen Reize vor dir … Szene in Latium, die verdeutlicht, warum die Maler früher vornehmlich ITALIENISCHE Ideallandschaften als Vorbild zu Rate zogen … eine giftgrüne Boa, die sich durch den Wildwuchs an Bäumen dem riesigen Urwesen, von dem ich bloß das stachlige Rückenschild erkenne, nähert. Ein neuer Kampf? Schauspiel meiner Fantasie, dabei ist die Wirklichkeit nicht weniger fantastisch … die Tiberauen vorm Gebirgsmassiv des Monte Soratte. Eine Schafsherde grast, Reiher standen zwischen ihnen im Sonntagsstaat (obwohl Dienstag!). Ich spüre Leere, jedoch anders als bei Meditationen, als sei ich ein Gefäß, das begehrt, gefüllt zu werden mit Wissen, Erbaulichem jeder Art, mit Liebe und unwillkürlich mit schwachsinnigen Kram bis es mich auskippt, unvorhergesehen mit dem einzigen Ziel bereit zu sein für neue Reizpunkte, bereit für einen neuen Plan, bereit für neue Schuhe.


Castello di Pissignano … ein unerwarteter Fund nach drei Stunden Wanderung über die mit Olivenbäumen bestreuten Hügel. Umfriedet von Mauern, die der Burg einst als Verteidigung diente und heute Rückzugsort einer Künstlergemeinschaft ist. Bunt und abstrakt bemalte Keramikfließen zeigen Vornamen und prangen neben den Hauseingängen an den bröckelnden Fassaden. Nur der gedämpfte Klang eines Radios oder eines Fernsehers beseelte die Gassen, das Leben schläft zur Mittagsstunde noch.

Spello … ein angepriesenes, zwei Zugstationen in Richtung Norden entferntes Dorf. Selbsternannte, um Touristen besser im Gedächtnis zu bleiben, „Blumenhochburg“. Was es dazu braucht ist offensichtlich, ich aber fragte mich gegenüber all der Gassen, ob ich sie nicht dutzendfach bereits sah? Was macht eigentlich den Reiz italienischer Ortschaften aus? Zweifelsfrei die Romantik, die im „Alten“ besteht, das Gefühl einen Flecken Erde in Augenschein zu nehmen, der seit Jahren unverändert fortbesteht. Die Moderne hielt nicht nur noch keinen Einzug, sie wurde gänzlich über Jahrzehnte hinweg ausgesperrt. Ratternde Klimaanlagen und funkelnde SAT-Schüsseln und einige versteckte Solarzellen beweisen den Irrtum. Diese oder jene Stadt … dieses oder jenes Dorf … diese oder jene Gasse … eine malerische Ansicht mehr oder weniger? Jedes Bild birgt die gleiche Idee, den Wunsch nach Bewährten, das Aufhalten des Lebensflusses, wie die Sehnsucht nach einem simplen und glücklichen Auskommen in Harmonie mit der Natur. Ich ertappe mich mit diesem wehmütigen Ausdruck um die Mundwinkel und realisiere, dass die Gasse Gasse ist und keine Idee. Die Liebe zu Italien, die wohl nirgends ausgeprägter ist als in deutschen Gefilden, ist eine Manie, wie die zu einer welken Blume, deren vergangene Schönheit sich in ihrem Antlitz widerspiegelt, ja sogar noch steigert, weil sie um die Erfahrung weiß zu verblühen ohne Trauer mit Stolz.

PISSIGNANO

Obwohl Spello oberflächlich überlegen, zeigte sich erneut, dass körperlicher Aufwand in die Rechnung, was letztendlich im Gedächtnis überdauert, mit einbezogen wird, wonach für uns das Castello di Pissignano größer schien, weil wir uns diese Aussichten mitsamt ihren Einsichten „erarbeiteten“.

Ganz richtig ist das Vorgenannte nicht … um der fortgeschrittenen Mittagshitze schleunigst zu entgehen und da Sonntag kein Bus mehr aus Pissignano (trotz stattfindendem Antikmarkt) abfuhr, beschriftete ich kurzerhand eine fettige Papiereinkaufstüte mit unserem Ziel Trevi und mit diesem zogen wir ergebnisoffen den Daumen schwingend über die Bundesstraße bis Claudio anhielt – ein Name, der von da an mit unserer ersten (aber überschaubaren) Tramperfahrung verbunden bleiben wird. Wir müssen also nicht unbedingt laufen, um ein Ziel zu unserem Ziel zu machen.


Donner grollen talwärts, geräuschvolle Lawinen aus namenlosen Wolkengebirgen, die gestern nicht dort, sondern weit oben standen, unerforschbar für jeden Bergsteiger sind ihre Gipfel. Die Törichten zittern vor Lust ihre Höhen zu bezwingen, die, könnten sie es, eventuell bald schon überragt werden würde von einem höheren Wolkengebilde. Der Donnerschlag erweckt aus dem Tagtraum. Auf dem Dach der Welt sitzt eine Schaumkrone. Auf unserem Dach prasseln derweil Tropfen des einsetzenden Regengusses, wie Schläge auf ein Xylophon erzeugt ihr Aufprall auf den Dachschindeln verschiedene Töne und spielt das Lied der Vergänglichkeit.

Die Gewitter häufen sich, ist der Sommer vorüber? Verschwindet Trevi in grauen Regenschlieren gehüllt, weil der Herbst sich ankündigt oder unser Abschied? In Melancholie versinken, abtauchen in Gewesenem, suhlen im Unwiederbringlichen … das kann ich. Vor diesem Monat war ich mir sicher: Ich würde mich verändern in den umbrischen Hügeln, nun mehr weiß ich, dass ich recht behielt. Unbefriedigenderweise bleibe ich mir eingehender Erklärungen bar. Womöglich habe ich nur Veränderung erfahren, weil ich weiter weg rückte von dem, was war. Was ist, ist ein Punkt, interessanter ist die Strecke zu ihm.

Seitdem wir hier in unserem Steinhaus wohnen, sahen wir die letzten Sonnenblumen verblühen, die ihr Haupt ehrfurchtsvoll beugten, doch nicht ausschließlich ihrem Welken ist es geschuldet, dass die Felder kahler wurden und damit eine goldene Tönung annahmen. Manche Feigenbäume hängen hitzeschwach ihre vielfingrigen Laubblätter, Lino der kleine Kater ist zu unübersehbarer Größe herangewachsen, so wie die Weintrauben und die Pflaumen, derer wir uns vornehmlich als Belohnung nach den Wocheneinkäufen bedienten und süßer schmeckten. Apropos süß, die Wassermelonensaison, die wir rege für erfrischende Abendsnacks nutzten, scheint vergangen. Ein Mondzyklus ist beinahe vollständig vollzogen. Unsere Nachbarin ist an Corona erkrankt, sämtliche Familienangehörige tragen selbst im Garten noch Mund-Nase-Schutz. Caroline, die Vermieterin, strich ein Zimmer und musste die Hundedame Frida wegen Antriebslosigkeit zum Tierarzt bringen. Freundinnen holten sie an einem anderen Tag zum Badeausflug ab, sie erkannten uns wieder, schenkten zwei Birnen mit der Frage einhergehend: Ah, ihr seid immer noch da? Ja, wir sind noch da, körperlich. Geistig schweifen wir in den aufregenden Wochen, die uns bald erwarten. Wir wollen wild campen, trampen und beim ersten Freiwilligenprojekt mithelfen, welches uns nach Asturien, an die Nordküste Spaniens führt.

Eine liebgewonnene Aussicht auf Trevi, SANTA MARIA IN VALLE

Abgereist werden wir körperlich zwar fort sein, aber oft geistig zurückkehren und durch die Olivenhaine spazieren und die Aussichten aus jeder vorstellbaren Richtung auf Trevi erneut genießen. Was wir den vergangenen Monat sahen, kann jeder leicht innerhalb einer Woche sehen (mit einem Auto reichen Tage), aber auf welchen Genuss müsste diese Person verzichten, nicht Dutzende von Sonnenuntergängen bei Trevi bestaunen zu können wie wir und die ins Tal unserer Erinnerungen stürzten und dort angestaut bleiben? Armer Tagesbesucher, der vom Aussichtsplateau San Martino nur einmal die Sonne untergehen sieht! Spätestens mit der Bergbesteigung des Monte Serano kennen wir wirklich jede Trevi-Ansicht. Jede? Donnerschlag! Ein Blitz enttarnt das Kloster neben unserer Lieblingsaussicht aus dem Dunkel und mit ihm uns als Lügner … nie ist alles gesehen, nie alles getan und nie alles gesagt. Für den Moment müssen wir uns mit dem, was wir Umbrien an Eindrücken entrissen, zufriedengeben, glücklich damit und glücklich das nächste Kapitel aufzuschlagen.

Hügelkette mit Blick ins umbrische Hinterland, MONTE SERANO

84 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

04.08.2023 - 15.10.2023

22.06.2023 - 03.08.2023

07.05.2023 - 21.06.2023

bottom of page