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07.05.2023 - 21.06.2023

San Marcos La Laguna – San Pedro La Laguna – Antigua – Jocotenango – Santa Ana

Sonnenaufgänge, prachtvolle Farbexplosionen, deren Funken auf der Oberfläche des Atitlán-Sees schwimmen. Als wäre dieser Ort für sich genommen nicht bereits Spektakel genug, gibt es hier anscheinend eine Garantie dafür, dass jeder Sonnenaufgang nach Unvergesslichkeit strebt. Wir sitzen in einer Hängematte, haben es leicht, diese Außergewöhnlichkeit und das Glück, das es bedeutet in Guatemala sein zu dürfen, anzuerkennen, doch unsere Augen sind trübe, ein feiner Schleier reicht aus, um diese Eindrücke vorüberziehen zu lassen. Leere ist in uns, sie ist von derart enormer Ausprägung, dass die Landschaft ausgehöhlt wird und ihre Sinnhaftigkeit verliert, dabei weiß jeder, dass solche Anblicke keinen Sinn erfüllen sollen, dafür hat sie die Natur nicht bestimmt, sie soll kein Glücksmoment für Menschen sein, sondern IST einfach. Wir wären am liebsten nicht mehr. Nicht in Guatemala, nicht in Deutschland. Fliegen, Busfahren, trampen oder wandern ... uns egal. Ob feste Unterbringung oder Zelt, der Reiz ist gleich gering. Was ist passiert? Definitiv nichts, was diese Trübseligkeit rechtfertigt. Wir beide sind uns der Albernheit unserer Gefühle bewusst, können Sie jedoch nicht beiseiteschieben. Bianca streichelt jeden Straßenhund mit dem wehmütigen Blick der Mutter, die erst ihr Kind verlor und ich nehme die Rolle dessen ein, der es hätte verhindern können.

Zwischen Nicht-Urlaub, denn dafür gönnen wir uns zu wenig und Nicht-Reisen, denn das erfordert physische, mindestens jedoch psychische Bewegung, verharren wir. In Guatemala sind wir Weiße, ein Wasserloch für die Einheimischen, dienen zum Auffüllen des Wasservorrats. Natürlich waren wir auch in Mexiko Ausländer, aber jeder Gang, jede Fahrt und jeder Einkauf ziehen den Gedanken nach sich finanziell ausgebeutet zu werden. All die Bettler... Wenn die Leute nicht mehr können, legen sie sich an Ort und Stelle in den Dreck des Bodens, wir liegen in einer Hängematte bei Sonnenaufgang. Vielleicht haben sie ein Recht dazu uns auszubeuten.

Wir setzen mit einer Lancha - einem Motorboot – von San Marcos La Laguna nach San Pedro La Laguna über, gehen durch die Gassen und setzen uns auf einen Stein, den Tränen nahe, was das alles soll. Was suchen wir hier? Den nächsten Kaffee oder Sinn? Was wir tun, ist sinnlos, wenn wir es so wollen, wir müssen also wieder wollen, dass es Sinn erhält. Wir wandern von Ortschaft zu Ortschaft, nähern uns Antworten, was uns glücklich machen könnte. Reden über Hundeadoption, über den Kauf eines Vans und vieles mehr. Währenddessen waschen die Frauen in ihren farbenfrohen Trachten, die die Vielfalt des Sonnenaufgangs einfangen, ihre Wäsche im Atitlán-See. Was wir brauchen, ist die simple Vorfreude, die jeder kennt, wenn man beispielsweise einen Urlaub gebucht hat oder ein verheißungsvolles Wochenende bevorsteht. Wir suchen nach Projekten, die es Wert scheinen, unterstützt zu werden, bei denen wir lernen und uns in sie hineinwerfen. Wir schreiben und hoffen, hoffen und schreiben. Für den nächsten Morgen beschließen wir eine Wanderung, laufen Serpentinen durch blühende Kaffeeplantagen. Ihr Geruch ist säuerlich wie eine Zitrusfrucht. Mich erinnert das an Kindheitserinnerungen und löslichen Tee. Ich nehme es wahr, ja ich spüre Empfänglichkeit für meine Umgebung und den Willen sie als Teil meiner Realität anzunehmen! Es geht aufwärts, physisch und psychisch. Vor dem letzten Aufstieg zur Aussichtsplattform ein abgesperrtes Tor, ein Bauarbeiter sagt uns, es sei alles Privatgelände, wir dürften nur gegen Bezahlung hier sein. Wir ziehen uns zurück, gehen einen neuen Weg und finden im Schatten eines hochgewachsenen Baumes zwischen Kaffeebüschen Ruhe. Wir betrachten die lieblichen Vulkanformen und lachen, lachen über die Lächerlichkeit des Gewesenen, wissen, dass das, was kommt, gleiche Gefahren birgt und hoffen weiter eine Antwort zu erhalten, die Vorfreude weckt.

Zwischen Vulkanen, Bussen und Kaffeeplantagen, ATITLÁN-SEE

Noch sind die Lanchas, die die spiegelglatte Oberfläche des Sees schneiden, mehrheitlich besetzt von Arbeitern, die auf diese Weise schnellstmöglich zwischen den Ortschaften der Umgebung wechseln. Die Vulkanspitzen sind umschmeichelt vom jungen Tageslicht. Das Schilf an den Ufern hängt wie die Oberköper der Tuk-Tuk-Fahrer vornübergebeugt, krumm ohne jegliche Spannkraft gegenüber einem neuen Tag. Frisch und motiviert treten wir auf die schrägen Holzstützen des Anlegers an Land, wo die ersten touristischen Minibusse ankommen. Bald werden die Boote Backpacks und ihre weißen Besitzer transportieren über 'den schönsten See der Welt', ein Slogan der mir in seiner Superlativform sauer aufstößt. Der See hat zu unseren Launen nichts beigetragen und hat nichts weggenommen, er ist einfach ein fotogener See.

Wir fühlen uns mental gestärkt. Für uns ist klar nach einer Woche Guatemala: Wir wollen weiter nach El Salvador. Am Ortsausgang von Panajachel brauchen wir Geduld als Tramper, werden schließlich aber doch ein paar Kilometer zur nächst größeren Kreuzung mitgenommen, bei der die Vulkane, die sich im Sonnenlicht baden, nach wie vor präsent sind. Eine staubige Straße, die uns unserem Ziel trotzdem näherbringt. Falsch, wie wir feststellen. Richtig falsch natürlich nicht, aber unvorteilhaft. Bianca hatte die nächstgrößere Stadt als Ziel und ich übergeordnet die Grenze im Sinn. Ein Missverständnis, durch das wir über 150 Kilometer weiter hätten kommen können.

"Ich dachte der macht hier Urlaub und unternimmt bloß einen Tagesausflug in die Nachbardörfer!"

"Nein, das hat er nicht gesagt! Er wohnt hinter Guatemala-Stadt und machte in Panajachel für drei Tage Urlaub. Er fährt zurück. Ach, wie ich es hasse mich mit den Leuten zu unterhalten, besonders wenn sie nuscheln wie der."

"Aber du kennst doch das Ziel: El Salvador!"

"Lern lieber Spanisch!"

Vorwürfe, resultierend aus Missverständnissen. Der Schorf über den Wunden bildet unzureichenden Schutz, Schmerz dringt trotzdem nach außen. Ein Mann hält mit seinem Pickup, er will bis Guatemala-Stadt. Da wir glauben aus dem Gewusel dieser Stadt nicht mehr zu entkommen, peilen wir Antigua, die alte Hauptstadt als Zwischenziel an. Zwischen leeren Zwiebelsäcken liegt unser Gepäck, wir drücken uns im Schatten der Fahrerkabine aneinander, rutschen über die Rollen der Ladefläche und sehen, was eben noch präsent uns umgab, kleiner werden und verschwinden. Die Fahrt macht Spaß. Als Sonnenschutz, wickeln wir uns unsere dünnen Jacken um den Kopf, aber die Leute erkennen trotzdem die ungewöhnliche Fracht und winken uns breit lächelnd hinterher, bis auch sie gleich wieder verschwinden, wie die Berge, die wir hoch und runter kurven, die nicht existierende Brücke, bei der wir das braune Flusswasser kreuzen, ein Dorf, an dessen Straßenrand ein Alter seinen Eiswagen im Stile der aufgemotzten Chicken-Busse vor sich herschiebt und die Wäscherinnen, die in einem Carré zusammenkommen und gut gelaunt im Becken die Klamotten auffrischen. Auf der Autobahn hoffen wir, dass unser Fahrer uns nicht vergessen hat. Wir halten uns fest und klettern an einer Abfahrt vom Pickup. Eventuell können wir in drei Wochen in Antigua ein Haus samt Hund pflegen. Die Anfrage ist gestellt, wir warten lediglich auf eine Antwort. Vielleicht stellen wir uns gleich persönlich vor? Der nächste Lift fährt nach San Salvador! Die Hauptstadt von El Salvador. Wieder ändern sich die Pläne in der Geschwindigkeit, wie vorhin die Dinge während der Fahrt kleiner wurden. Dürfen wir mitfahren? Es gibt ein weiteres San Salvador, kurz nach Guatemala-Stadt, nein in das wollen wir nicht. Wir erreichen Antigua, werden sofort von den bunten Kolonialgassen gefangen genommen und nisten uns in einer Brauerei mit Internet ein - noch keine Antwort - wir unterbreiten den Vorschlag, erhalten aber nach unserem Umzug in ein Café schließlich die Absage. Warum sollten wir abreisen, um in ein paar Wochen wieder zurückzukehren? Das ist ein anderer Plan – zunächst: Wir bleiben! Nicht nur für heute, nicht für eine Woche, für einen ganzen Monat - Pläne sind wie Sägespäne, ein winziger Teil eines Stücks, schnell gefasst und schneller verworfen. Bis Anfang Juni müssen wir uns darum jedoch nicht mehr kümmern. El Salvador kann warten.

Wieder per Anhalter unterwegs

Versteckt unter einem dünnen Leinentuch dringt nur ein zarter Lichtschimmer zu uns hindurch. Den Hauch Realität, den er mit sich führt, verweigern wir, indem wir die Augen erneut schließen. Wir üben uns im Nichts-Tun, wie man meinen könnte, aber stattdessen sind wir bemüht der eigentlichen daoistischen Bedeutung, dem Fluss, nachzukommen. Natürlich gelingt das nicht, indem wir einfach faul im Bett liegen bleiben. Wir beschäftigen uns lieber mit Aufgaben, die nichts mit Reisen zu tun haben und lesen fremde Bücher, überarbeiten eigene Bücher, sammeln erste Erfahrung in App-Entwicklung, berühren das Thema der Meditation, erstmals seitdem wir das Zentrum in Valladolid verließen, kümmern uns um eine sportliche Routine usw. Davor, dazwischen oder danach spazieren wir durch Antigua. Wer eine Orientierung dank der rechtwinkligen Gassen gefunden hat, behält sie, so steuern wir mit oder ohne Ziel entlang farbenfroher Häuser, sitzen in Cafés, an Plätzen oder Märkten, überall, wo wir ausruhen können und machen uns aufmerksam auf die Details des vorüberziehenden, einen zwielichtigen Zuckerwattenverkäufer etwa und Kinder, die dem Restaurator für Bänke interessiert folgen. Man lebt einen Alltag, so könnte man es die ersten Tage abtun. Tun, worauf man Lust hat und sei es auch nur die Bettdecke sich erneut über den Kopf zu ziehen.

Plaza Mayor, ANTIGUA

Innerhalb der Tage gibt es trotz der nächtlichen Wiederkehr keine Trennung. Zusammen ziehen sie sich wie Kaugummi, aber eine Sorte, die den Geschmack nicht verliert. Wer uns fragt, was wir tun, bekommt vage Aussagen, Ausflüchte schon fast, die vermuten ließen, dass das, was wir machen, zu nichtig für eine Ausbreitung ist. Oder gibt es nichts zu berichten?

Wenn wir morgens die Einfahrt hinab spazieren über deren Eingangstor der Agua-Vulkan steht, reicht mir das an Abenteuer, aber wir gehen noch weiter die Verbindungsstraße auf der eine jugendliche Gemeinschaft nachmittags Häuser von trist auf froh umstreicht, und auf der wir ständig angesprochen werden Gras zu kaufen, überqueren die Hauptstraße nach Jocotenango hinein in die nächste Seitengasse, wo jemand gerade zu sich kommt und sich den Staub aus den Augen reibt und umlaufen das Stadion des Fußballvereins der "Avocadobäuche" (seltsamer Name). Wir nehmen die morgendliche Herausforderung an und mühen uns eine Pflasterstraße hinauf, auf deren Steigerung das Gros an Mopeds und Tuk-Tuks versagt. Grundstückstüren werden aufgerissen, Hunde entlassen, als müssten sie Geld für den Unterhalt beschaffen und erreichen den Cerro de La Cruz. Wir unterhalten uns über Hunderassen, das Personal, welches Laub und Müll zusammenfegt plauscht ebenso, die Aussicht ist phänomenal, aber Nebensache. Das gilt für mehr - jede Handlung ist nebensächlich, egal ob wir Dörfer des Tals erkunden, auf dem Markt plattgedrückte Ratten im Staub erkennen oder Kaffee trinken gehen. Was uns am Ehesten interessiert, sind Nebensächlichkeiten … und was war mit dem Erdbeben? Nebensächlich, allzu nebensächlich, denn die geschehen hundertfach innerhalb eines Monats und gerade ein Beben davon übersteigt den Richtwert von 5, wonach das Bett zum Massagegerät wird, das einen für Sekunden durchrüttelt und gleich danach entlässt.

Cerro de La Cruz, ANTIGUA

In Oaxaca schrieb ich: "Der Geist reist langsam, der Körper vorneweg." Quasi in Anlehnung an die Fabel von Olga Tokarczuk, mit dem kleinen Unterschied, Seele mit Geist vertauscht zu haben - Details, beide nicht stofflich, nicht greifbar und ersetzbar wie in einer Rochade. Heute, ein Viertel Jahr später, schreibe ich jedoch: Der Körper reist langsam, der Geist vorneweg.

Nachdem wir uns die vergangenen Wochen mutwillig nicht fortbewegten, hatten wir Zeit in der (wie stets angenommenen) wolkenlosen Zukunft umherzufliegen und wir fanden uns beide in Südamerika wieder. Ohne Anhaltspunkte flogen wir über undurchdringliche Wälder und märchenhafte Gebirgsausläufer und nannten es Kolumbien. Womöglich erste Vorboten der Anden... und Ecuador... Ob die politische Lage in Peru stabil sein wird? Sonst müssten wir weiter nach Bolivien und in Uruguay wartet ein bilderloses Paradies - graues Rauschen grauerer Vorstellungen... Und dann erreichen wie auf dem Rücken eines Pferdes die Weiten Argentiniens, begrüßen erneut die Anden und reiten über ihren Rücken bis zur Südspitze Chiles. Überall waren wir bereits - geistig - nun muss nur noch der Körper folgen. Muss er?

Ein Knall, als würde der Traum eines Fremden auf unser Wellblechdach einschlagen, holt mich zurück ins Hier und Jetzt.

Reisen wir zu langsam, frage ich Bianca. Nein, nicht zu langsam, sondern viel zu langsam. Gemessen an der bisherigen Geschwindigkeit und der grassierenden Inflation (Guatemala aus Sicht der Lebenshaltungskosten ist wahrlich kein Schnäppchen) sind unsere Ersparnisse vor Feuerland versiegt. Ab Kolumbien ist die Auswahl an Projekten enorm, eventuell bewegen wir uns dann ausschließlich von Freiwilligendienst zu Freiwilligendienst ohne Reisepausen dazwischen. Selbst einen Van zu kaufen, der aus Mangel an Besitzen-Wollen vor der Reise nie ein Thema war, wird nun zwischen uns diskutiert. Da uns aus Belize keine Antwort erreichte, bereisen wir das Land diesmal nicht, so wie die Karibikküste Guatemalas, wir sagen einen bestätigten Freiwilligendienst in Honduras ab, weil der Umweg unverhältnismäßig scheint ... Wir fahren nach El Salvador, wie es ursprünglich nie geplant war, zwischendurch dann Sinn ergab und nun wieder näher denn je rückt.

Lavafelder Pacaya

Aber wir erleben auch, stecken unsere Köpfe nicht ausschließlich in Zukunftsphantasien. So reisten wir zum Pacaya-Vulkan, wanderten im schwarzen Sand, der nach den Regenfällen vergangener Nacht mehr Halt bot, zu den Lavafeldern, die vor allem durch den Ausbruch 2021 entstanden. Furchen, als ob ein Bagger einen Weg zum Krater freiräumen wollte. Eine Landschaft in Schwarz-Grau. Das Märchen vom heißen Brei hat wohl ein lateinamerikanisches Gegenstück. Rauch stieg aus dem Boden, kein Nebel, obschon auch der vorhanden war, diese nach Schwefel riechenden Schwaden. Bei welchem Schritt würde die Schuhsohle schmelzen? Feuerrote Steine leuchteten gleich Sternschnuppen am dunklen Untergrund, doch trotz all der Lebensverneinenden Umgebung entdeckten wir einen Farn, ein Wedel dessen Ausmaß die Länge meines kleinen Fingers nicht überstieg. Ein Gleichnis für den unaufhaltsamen Fortlauf der Dinge, Belohnung einer Beobachtung, wenn Geist (oder Seele?) und Körper gemeinsam auf demselben Flecken Erde stehen.

Busstation Antigua

Der Motor des Chicken-Buses startete als das bunte Monstrum unter dem Lachen der Helfer angeschoben wurde. Schwarzer Rauch stieg mit einer Aneinanderreihung von Explosionen aus dem Auspuff. Mit diesem Feuerwerk verließen wir Antigua in der Beuge zwischen Agua- und Fuego-Vulkan. Eine dunkle Rauchfahne stieg ebenso aus letzterem, eigentlich ein bekanntes Phänomen, doch die Guatemalteken zückten ihre Handys für Videomitschnitte. Mir kam es vor, als bewegten wir uns nicht fort. Auch beim ersten Umstieg in Escuintla, wo nicht nur der Fassadenputz bröckelte, sondern die ganzen Gebäudereihen, welche sich hinter Marktständen mit ihren bunten zerschlissenen Sonnenschirmen erhoben. Doch selbst hier, sahen wir sie noch - die Vulkane. Der Morgendunst zog sich schwer wie ein bleierner Vorhang zwischen ihnen und uns, aber dort oben, in einer luftigen Höhe, wo sich Schäfchen-Wolken jagen, sahen wir noch immer die abgerundeten Spitzen der Riesen. Auch der Pacaya gesellte sich dazu und fügte sich in die Landschaft ein und als wir schon glaubten, dass sie uns nie wieder verließen, verschwand die Vulkankette doch. Der Fahrer gab sich dafür auch Mühe, denn er heizte über die Straße unter Anstachelung seiner zwei Kollegen. Kein Überholmanöver schien ihm zu waghalsig, wahrscheinlich beabsichtigte er einen neuen Interimsrekord zur Grenze aufzustellen. Erneute schwenkte er aus und brach den Versuch ab, als seine Kollegen ihn nervös dazu bewegten die Klapperkiste hinter dem fast gleich schnellen LKW einzugliedern. Die letzten Kilometer zu Fuß, vorbei an einer Schlange von geduldig wartenden LKWs. Zwei Militärs bliesen Langeweile im Schatten und kontrollierten uns, krampfhaft suchten sie in unseren Reisepässen nach unseren Namen und versuchten sie korrekt auszusprechen. Danach fragten sie uns, wo wir überall gewesen sind... Quetzaltenango, San Marcos am Atitlán-See und Antigua... zufrieden mit der Antwort erhielten wir unsere Papiere zurück und liefen über eine Brücke, die einen Fluss überspannte, der nebenberuflich als Grenze diente - das war Guatemala.

In El Salvador stiegen wir in den nächsten Bus, Nummer vier von fünf. Die Landschaft war eben und weitläufig, das Gedränge auf den Sitzpolstern dagegen eng und kräftezehrend. Wir rutschten vor nicht zurückhaltbaren Schweiß auf den Ledersitzplostern hin und her, während eine Parade von Verkäufern durch den überfüllten Zwischengang wie durch einen Dschungel zog. Quesadillas, Kokoswasser, Papayas, Mais, Werbung für ein vegetarisches Restaurant (dafür wurden auf kleinen Bildern Krankheitserreger, die durch Fleischverzehr übertragen werden gezeigt) und Schmerztabletten. Ebenso fand sich ein Sänger mit Cowboyhut ein und schmetterte seine Volksmusik aus voller Kehle. Zuvor gab es in einer Pause sogar einen Pastor, der aus der Bibel zitierte. Nach über acht Stunden schlugen unsere Augenlider wie Rollläden runter. Als wir aufwachten, mussten die Fenster vor dem einprasselnden Regen hochgezogen werden, die gesunkenen Temperaturen waren spürbar. Im Schritttempo quälte sich der Bus bergan und zwischen den Bäumen, erkannten wir einen Vulkan. Nein, nicht der Agua, den wir vormittags beflissentlich umrundeten und keiner seiner Nachbarn, wir fuhren über den Ausläufern des Santa Ana (oder auch Ilamatepec) Vulkan. Namensgeber unseres Zielorts und es dünkte uns, als hätten wir die weite Strecke zurückgelegt, um einen Vulkan mit einem anderen zu tauschen, aber das stimmt nicht.

Grenzübergang Guatemala - El Salvador

Auf Donner folgt Stromausfall. Der Innenraum des Cafés hüllt sich in dunkle Nacht - für zwei Sekunden bloß, jene, die jedoch in Filmen ausreichen einen Mord zu begehen. Es klopft an der Tür, die Bediente eilt im Laufschritt und öffnet (geschlossene Türen sind keine Seltenheit in El Salvador), zwei Frauen treten ein, durchnässt, aber glücklich. Wir wollten gerade gehen, aber der Wolkenbruch führt zu einem Cappuccino und einem Gespräch.

"Warum bin ich... Naja so halt... Ich weiß nicht, wie ich sagen soll."

Wir probieren zu ergründen: Sind wir wieder gefühlsmäßig zum Atitlán-See zurückgeworfen und damit vor einer Sinnfrage? Sind wir wieder wie zum Anfang der Rückkehr in Oaxaca grundlos unglücklich? Oder sind wir wieder in Gijón und stecken zu sehr in Zukunftsvisionen, die die Gegenwart verdrängen?

Nach knapp einem Jahr Reisen sehnen wir uns nach Bekanntem, nicht zu überlegen, wie die Reiseroute weiterverläuft, sondern dem eigenen Gefühl dorthin folgen, wo es sich bewährt wohlfühlt. Dafür gibt es einen Begriff: Heimweh. Da wir nie zuvor daran litten, kennen wir keine Symptome, aber wäre es nicht logisch? Demnach wäre Heimweh für uns kein Ort, keine Person, sondern die Abwesenheit von Unbekannten, welches sich in einer unbeschreiblichen Gefühlsregung äußert. Heimweh ... dafür gibt es keinen Arzt, genauso wenig wie für Fernweh. Es scheint, als müsse man stets 'leiden', denn wie lange würde es dauern, wenn wir dem Heimweh nachkommen, bevor das Fernweh in uns zuckt? Womöglich zwei Sekunden…

Salto de Malacatiupan

Ich möchte nicht vom Kraterausblick des Ilamatepec-Vulkans schreiben oder von dem Wasserfall, der von heißen Quellen gespeist wird, denn dies sind die touristischen Höhepunkte unseres Aufenthaltes der ersten Woche in El Salvador, ich möchte auch gar nicht ins Schwärmen über die grünen Ausblicke über Zuckerrohrfelder geraten, aus denen einzelne Baumexemplare ragen und die blauen Berge in ihrem Hintergrund. Stattdessen will ich festhalten, was uns in Guatemala abhandenkam: Verbundenheit mit dem 'Dazwischen'.

Keine 10 Minuten vergingen nach dem Grenzübertritt als wir von einem halbverschlafenen Busfahrer freundlich den Weg gewiesen bekamen, wo wir zu Warten haben, um unser Zwischenziel zu erreichen. Im Schatten eines Wellblechdaches sprach uns ein Schuhputzer an... Auf Englisch. Sein Kunde nickte nur freundlich, als er mitbekam, dass wir aus Deutschland seien. Sie wissen nicht viel von diesem kleinen Land, das weit entfernt von ihnen liegt, sie kennen Toni Kroos... Und dann nicht viel mehr, aber sie hatten ein Lachen übrig, hießen uns willkommen. Mexikaner begrüßten uns auch mit einem Lächeln, einem das vor Selbstvertrauen strotzte, aus den Gesichtern der Guatemalteken stach Misstrauen und hier in El Salvador, ist es kindliche Schüchternheit. Natürlich... das Land steckt noch in Kinderschuhen, was Tourismus anbelangt. Wir sind nicht die einzigen, aber eine exotische Ausnahme, selbst in der zweitgrößten Stadt des Landes Santa Ana. Wir bekommen zugewunken und werden (wieder auf Englisch) begrüßt. Wir müssen ihnen klar machen keine US-Amerikaner zu sein, denn jeder Weiße kommt für sie aus den Vereinigten Staaten.

Avocadopflücken

Wir treffen während unserer Vulkanwanderung auf einen Freund von Castor. Castor ist nicht nur derjenige, dem wir helfen sein Hostel etwas auf Vordermann zu bringen, er begleitet uns am Wochenende und zeigt uns sein Land. Den Freund sah er seit 15 Jahren nicht, weil sein Bruder von einer Gang ermordet wurde und ihm selbiges angedroht wurde. Er zog von Kolumbien über Chile schließlich nach Spanien und kehrte nun zurück zu seiner Familie. Seine zweite Frage, nachdem unsere Herkunft geklärt war, war ob wir Weed rauchen würden. Wir warteten auf seine Tochter und den Schwiegersohn, dann lud er uns am Coatepeque-See zum Essen ein. Er redete von den unterschiedlichen Bedeutungen von Worten in den spanisch-sprachigen Ländern, die er kennenlernte. Wir durften noch Avocados vom Baum vor dem Restaurant pflücken und fuhren heim. Da sein Joint auf dem Nachhauseweg ausging, fuhr er in regelmäßigen Abständen rechts ran auf den Seitenstreifen. Zum Abschied sahen uns zwei gerötete braune Augen aus dem pockennarbigen Gesicht treu an und schworen uns Verbrüderung.

Abends sitzen wir gerne auf Autoreifen vor dem Hosteleingang, trinken ein Bier und lassen die Nachbarschaft an uns vorüberziehen, von denen jeder ein freundliches Lächeln und ein paar Worte übrig hat. Durch Castor gingen wir sogar abends aus, besuchten in einem abgelegenen Pub ein Metal-Konzert von Araña, die in ihrer Bandhistorie sogar schon als Vorband von Größen wie Iron Maiden und auf dem Wacken Festival auftraten. Jeder verwickelte uns in Gespräche, jeder war interessiert, niemand zu aufdringlich. Nach dem Konzert kam der Bassist zielgerichtet auf uns zu und erfragte unsere Meinung. Jeder verabschiedete sich von uns bis wir uns verabschiedeten. Zum Schluss meint Castor, das sei völlig normal - 'cool und simpel' das ist zwar kein offizieller Slogan von El Salvador, doch manche kennen ihn, aber jeder scheint danach zu leben.

Kratersee Ilamatepec

Zeit etwas auszuprobieren. Während wir den Landschaften El Salvadors bisher aus dem Busfenster nachfolgten, steigerte dies den Drang ihnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen und zwar in dem Maße, wie wir es uns wünschen. Wir liehen uns also einen Roller in Motorradoptik aus. Wackelig versuchten wir das Gleichgewicht zu halten, ein Unterfangen, welches bei gesteigerter Geschwindigkeit umso besser funktionierte. Nachdem wir dem Tankstellenpersonal 3 Dollar in die Hand drückten, war der Tank voll und der weitere Weg unbestimmt. So rauschten wir unter Baumkronen hinweg, die sich über die Straßen beugten, überholten schwarzen Rauch ausstoßende Chicken-Busse und fanden uns bei den Zuckerrohrfeldern des vergangenen Sonntags wieder, als wir den heißen Wasserfall besuchten. Wir bogen zuvor ab und stotterten über das grobe Geröll des Wegs, da ich es nicht Straße nennen möchte. Spätestens nun war das Gleichgewicht kalibriert. Wir fuhren durch Dörfer und kleine Flussläufe, übersahen die Weiten bis zu einem Vulkan - ein Ebenbild meiner Vorstellungskraft von diesem Kontinent.

Auf der Ruta de las Flores sahen wir Kleinode und durchzogen Kaffeeplantagen, in deren Fincas die Vatertagsausflügler (hierzulande der 17. Juni) Rast hielten. Selbsterklärend gab es auch Blumen am Wegesrand, wie auch Regen. Zum Ausgang der Panoramastraße ergoss sich ein Wolkenbruch. Mit Mühe schafften wir uns unter einer Bushaltestelle unterzustellen, aber es zwar zwecklos. Den nächsten Ort erreichten wir, aber die bedrohliche Kulisse ließ uns keine Wahl: Wir fuhren nach knapp zwei Stunden Abwarten im Regen los. 50 Kilometer durchnässt tuckerten wir über vulkanische Anhöhen, fanden uns kurzärmlig von Nebel umgeben und fuhren taleinwärts zurück nach Santa Ana. Über den Gebirgen hingen Gewitterwolken, sie ließen einen schmalen Hoffnungsschimmer übrig, doch als dieser erlosch, fuhren wir im Dunkeln und mit mäßigem Licht. Ich spürte Bianca's Hände auf dem Lappen, der an mir klebte und ich bibberte wie ein Welpe vor der ersten Nacht... und trotzdem machte es Spaß, so viel, dass wir um einen Tag verlängerten.

Kurz vor sechs Uhr bestiegen wir wieder den Sitz, feucht vom durchhaltenden Regen, der gestern einige Partys zum Vatertag mit Livegesang zum Platzen brachte. Am Coatepeque-See müssen wir anhalten. Die Lust auf die Ausblicke auf den See, der stündlich seine Farbe ändern sollte, war zu anziehend. Wir frühstückten, indem wir von einer Verkäuferin ein Stück Quesadilla erwarben. Auf einem Grundstück wurden wir vom Eigentümer hereingebeten, um eine bessere Aussicht zu genießen, während er mit seiner Freundin die Hängematte aufspannte. Wir verfielen in Staunen. Der Weitblick überwand Grenzen, so sahen wir vom Cerro Verde über den Vulkan bis zum Strand und damit in der Breite knapp ein Drittel des Landes. Am Horizont erhoben sich Agua, Fuego und Acatenango, die die wir hinter uns geglaubt ließen. Winzig, aber der Ausstoß der Rauchfahne war unzweifelhaft. Irgendwo dort ließen wir unsere zwischenzeitlichen Reisebedenken zurück.

Bedenken hatte ich nur wegen des leeren Tanks, aber die 25 Kilometer bis zur Tankstelle rollten wir fast ausschließlich. Wieder knapp 3 Dollar und weiter ging's. Unser Roller fungierte bald darauf als Crossmaschine, denn wo Google keine Straße mehr anzeigte, genügte uns ein Wanderweg. Schweißgebadet überfuhren wir Stock und Stein, obwohl doch mehr Steinanteil vorhanden und fragten uns, was wir uns mit dieser Entscheidung aufhalsten, dabei sollte es entspannter werden. Mittlerweile klapperte etwas und der Motor sprang erst beim dritten Versuch an. Bianca meinte, wir sollten unsere Sucht nach Runden psychologisch untersuchen lassen. Warum nicht? Kurz danach, als wir es schafften, tranken wir Micheladas, naschten Kokosfleisch und blickten auf diesen unwirklichen See mit seiner Färbung, die von den vorüberziehenden Wolken durchbrochen wurden, so unwirklich wie unsere Zweiraderfahrung.

Am Abend unterhalten wir uns mit Castor. Die kommenden Tage beenden wir unsere Aufgaben, d.h. verstreichen die restliche Farbe, denn die Außenwand im ersten Stock ist nun dank wacklig selbstgebauter Leiter orange-blau und schreiben eine Bedienhilfe für die taufrische Homepage. Ein bisschen riecht es nach Abschiedsstimmung. Er bedankt sich für die gemalten Bilder, die kleinen Umgestaltungen, die neuen Trinkgläser aus leeren Weinflaschen und sagt, dass das, was wir taten, mehr Sinn hat, als wir vielleicht denken. Da sind wir wieder: Beim Sinn. In einem Dialog von Satre las ich, dass Dinge keinen Sinn haben. Wieso? - meint der eine. Weil wir es wollen – sagt der andere. Wenn wir wollen können, dass es keinen Sinn gibt, dann müssen wir selbst es ebenso wollen können, dass es ihn gibt - diesen Sinn - wenn meine Schlussfolgerung richtig ist. Ein Satz, der heruntergebrochen die Krux von eineinhalb Monaten beinhaltet, ein See aus Worten und Gedanken, bei weitem hässlicher als der Coatepeque-See, aber wir sind ihn durchschwommen und am Ufer des Positivismus an Land gegangen.

Bedrohliche Gewitterkulisse

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