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07.09.2022 - 13.11.2022

Aktualisiert: 8. Mai 2023

Gijón – Oviedo – Llastres – Ribadesella – Ballota - Santiago de Compostela – A Picaraña – O Campo – Pontevedra – Redondela – O Porriño – Tui – Valença – Vila Nova de Cerveira – Caminha – Viana do Castelo – Castello do Neiva – Esposende – Póvoa de Varzim – Labruge – Matosinhos – Porto – Coimbra – Peniche – Lissabon – La Cabrera – Madrid

Mein erstes Mal. Erste Male prinzipiell sollen denkwürdig sein, ich zumindest möchte mich an ein erstes Mal erinnern ohne Anklang negativer Gefühle, alles muss perfekt sein aufgrund der Unwiederbringlichkeit – eine ideale Vorstellung, auf die jedoch kaum Einfluss ausgeübt werden kann. Seit meiner Kindheit liebe ich den Film ‚Point Break‘ mit Patrick Swayze und Keanu Reeves. Eine Band aus Surfern raubt Banken aus, aber nur ein halbes Jahr, um sich den Lebensstil voller Adrenalin auf den Wellen zu finanzieren, wenn selbige an ihrem Heimatstrand abflauen. Surfen, so vermittelt der Film nebenbei, sei mehr als eine Sportart. Du nimmst dein Board nicht wie ein Fahrrad, fährst eine Runde um den See und stellst es zurück in den Keller. Am Surfen, so dachte ich, hängt ein übergeordneter Sinn, eine ganze Lebenseinstellung. Wenn das Meer nicht wäre … Obwohl ich gern und viel darin baden ging, hatte ich stets ein klammes Bauchgefühl. Eventuell hat mich dabei der ‚Weiße Hai‘, ein anderer amerikanischer Spielfilm als Kind stark beeinflusst, um nicht zu sagen: verschreckt. Eine Furcht vor der Tiefe und was sie verbirgt, wobei da, was in der Tiefe haust, selbsterklärend nicht nach unserem Leben trachtet, sobald wir bloß den großen Zeh in den Ozean tauchen. In einem früheren Urlaub lernte ich schnorcheln, lernte den Satz kennen „Lass den Meeresbewohnern ihren Freiraum, dann lassen sie dir den deinen!“ So simpel verlor ich jegliche Ängste oder Befürchtungen und der Faszination des Surfens stand nichts mehr im Wege. Jeder, der mir begegnete und Erfahrungen verzeichnete, wurde bis aufs Mark interviewt. Erzähl mir mehr! Egal, was ich zu hören bekam, ich träumte von meinem ersten Mal surfen und einer malerischen Bucht. Meine Füße versinken im Puderzuckersand und werden nur vom Wasser vor der noch sengenden Nachmittagssonne abgekühlt. Palmen schauen interessiert über die goldfunkelnde Flur. Hier an diesem einsamen Ort würde ich als erster Mensch, meine erste Welle reiten, was selbstverständlich problemlos funktioniert, da ich ein Naturtalent bin. In unseren vier freien Tagen sind wir in einem Hostel in Gijón und dieses betitelt sich (welch ein Zufall) parallel als Surf-Hostel. Man nimmt sich dort entweder ein Bett, weil man den Jakobsweg nach Santiago de Compostela läuft oder surfen will. Gus surft ebenfalls, wie ich in vorangegangenen Lebenszeichen bereits erwähnte, aber irgendwie kam eine Lehrunterweisung, in der er uns die Grundlagen beibringen konnte, nicht zustande, weswegen wir die offizielle Methode einer Anmeldung im Hostel wählten, wie etliche Besucher vor uns. Jedoch machte der Surflehrer Alberto im Verschnitt eines Matthew McConaughey einiges wett. Er kiffte wie blöde zu jeder Gelegenheit, unterbrach das Rauchen lediglich kurzzeitig zum Frühstück und natürlich beim Surfen. Er kam im babyblauen abgehalfterten VW-Van angerauscht, hielt mit Not die Fahrertür in der Kurve geschlossen, während er seine Qualmwolken kontinuierlich, einem Dampfer ähnlich, ausstieß. Aus dem Wagen stieg ein sonnengegerbtes und bärtiges Gesicht, welches blonde Locken rahmten. Danach Schaulaufen über den Strand vor den Hochhäusern der Großstadt und der Vielzahl an Badegästen … mein erstes Mal und meine Traumvorstellung davon … „Nachdem ihr nun die Grundlagen wisst“, meinte Alberto „vergesst ihr sie sofort, denn es kommt nur darauf an die Wellen zu spüren, das Surfen dauert nur Sekunden.“ Und die spürte ich, schwebte auf dem Board ohne einen Gedanken im Kopf – erlebte ich, was ich wünschte? Die anfängergeeigneten Wellen rauschten im Hafen vorbei auf die Playa de San Lorenzo zu und da, was geschah mit mir? Umgeben von zischender Gischt rauschte ich tritonenhaft mit der Welle, verschmolz mit ihr, war nicht mehr als ein Wassertropfen, der bald zurück zur Einheit kehren würde. Ich schmeckte das Salzwasser, als die Welle mich als Fremdkörper enttarnte und schaute zurück, da lag Bianca wie die meisten Schüler auf den Bauch des Surfboards. Hatte ich es getan? Bin ich tatsächlich gesurft? Ja, für ein oder zwei Sekunden und habe ich dadurch einen Traum mehr oder weniger? Einen Traum mehr und ein erstes Mal weniger. Wie unbedeutend ist das erste Mal, das doch nichts anderes ist als ein Anfang, der nie darüber hinaus reicht zu dem, was noch kommt.


Das Flugticket nach Mexiko ist gebucht. Der Abschied aus Europa, er kommt gelegen. Gut und gern hätten wir zwar ewig über den Kontinent umherziehen können, um seine bekannten und unbekannten Flecken für uns zu entdecken, aber dass die Zeit endlich sein würde war uns klar, was nicht unbedingt mit den reservierten Flugtickets in Verbindung stand. Der Durchgangsverkehr im Hostel nahm im Gleichschritt ab, wie die Wellen, die den Playa San Lorenzo erreichten. Letzteres war eine Momentaufnahme, ersteres eine nun bis Frühjahr andauernde Periode, denn die Nebensaison hat begonnen. Nicht nur das - auf der Promenade tragen die Leute Jacken. Jacken die vor der ersten aufkommenden Kälte, namentlich einer ungemütlichen Herbstfrische schützen sollen. Tagsüber brannte die Sonne scheinbar unverändert, doch in ihren ausgelegten Schatten fühlte man ein mittlerweile vergessenes Gefühl von Kälteempfinden. Kurzärmelig, mit dünner Hose, deren Stoff im Wind fahnengleich umhergewedelt wird und mit Schlappen, bei denen die Zehen nach einem ausgedehnten Spaziergang eine blau-violette Färbung annahmen, konnte selbst ich nicht mehr bloß von einem Modetrend sprechen und kramte im Hostel meinen einzig dicken Pullover aus dem Rucksack. Auf der Brücke Piles, die den gleichnamigen Fluss überspannt, schaute ich ins sonst klare Wasser, das ins Meer strömt, aber mittlerweile Altersflecken bekam – Bewegte gelblich-braune Sprenkel: Herbstlaub.

Día de América, OVIEDO

In der Hauptstadt von Asturien – Oviedo - wurde ein Festival abgehalten, die Leute scharten sich zusammen, wer weiß vielleicht ein letztes Mal in diesem Jahr? Stühle werden am Rand einer Prachtstraße aufgestellt und gaben den Weg des bevorstehenden Umzugs vor. Der ‚Día de América‘ steht alljährlich im Zeichen ausgewanderter und eingewanderter Menschen und demzufolge für kulturellen Austausch. Zwischen den gesättigten Farben der asturischen Trachten, die beim Tanz wie Schirme umherwirbelten, mischten sich aufreizender Federschmuck von leicht bekleideten Brasilianerinnen und Brasilianern. Doch nicht der auffallende Wechsel an Trachten ist frappant, sondern, dass sie keinen Rückschluss zuließen auf die ungebrochene Lebensfreude beider Kontinente. Eine Schildkröte flog an uns vorbei, auf ihr, eine Band aus Ecuador, weiter ein fahrender Wasserfall, Symbol des regionalen Fischfangs, wie auch ein psychodelischer Koyotenkopf mit mexikanischen Mariachis. Die Musik wässerte unbegründet unsere Augen, bald stehen wir auf der anderen Seite des Atlantiks. Immer steht man woanders, wenn man nur näher darüber nachdenkt. Jede Person stand auf einmal, eine Blaskappelle schmetterte nämlich die asturische Hymne, spätestens von da an waren alle ergriffen. Die Reiterstaffel beendete das Fest, die Stadtreinigung sammelte postwendet Stühle und Konfettimüll ein, so gehört sich das für die selbsternannt sauberste Stadt Spaniens. In den Sidrerias wurde ungehemmt weiter gefeiert, obwohl die Sonne bereits unterging und die Leute zwang ihre Jacken überzustreifen.

Da wir uns in der letzten vollständigen Woche in der Region befinden, tun wir, was wir zu tun beabsichtigten, aber dennoch bis zum Schluss vor uns herschoben. Ein Besuch in Oviedo zum Beispiel, von dem uns Einheimische, wie der Hafeninspektor, abrieten, unternahmen wir bereits, aber auch das Ausleihen eines Mietautos. Zuerst fuhren wir entlang der malerischen Küste und spazierten durch Dorf- bzw. Kleinstadtperlen wie Llastres und Ribadesella, welche verteilt an einer s-förmig geschwungenen Flussmündung einen einmaligen Anblick bot. Eigentliches Ziel war jedoch das Landesinnere mit dem kantabrischen Gebirge und den regional bekanntesten Wanderziel, den Picos de Europa. Schroffe Gipfelzacken, die aus geschwungenen saftig grünen Wiesen stachen – wer hat sie bloß dahingestellt? Das Massiv, welches sich wie selbstverständlich aus der Landschaft emporschraubte, gewann an Realität, wobei wirklich fassbar ist diese Schönheit stets nur ansatzweise. An einem Aussichtspunkt rasteten wir und schauten über den Kopf des Bauern, der das Heu der gemähten Wiese noch umständlich mit der Heugabel wendete und für den die Szenerie ein Wohnzimmer und somit ein gewohnter Anblick zu sein schien, der charakteristische Zahn des 2514 Meter hohen Pico Urriellu, ein Gemälde von vielen für ihn, welches durch die Sonne ausgeblasst den Eindruck erweckte, lediglich von Zauberhand in die Landschaft eingepasst worden zu sein.

Ausblick auf den Pico Urriellu

Unseren Schlafplatz, einen Bergsee, erreichten wir über einen Bergpass, durchquerten dafür Nebelschwaden, vorbei an Kühen, die um diese Zeit nicht mehr mit Besuch rechneten und sich deswegen auf dem Asphalt breit machten. Angekommen war die Sicht klar und eröffnete einen Sternhimmel ohne Zwischenraum, Stern an Stern. Ich träumte von einem Menschen, einem optischen Gemisch aus Klaus Kinski und Richard David Precht, der einen Gottesbeweis verlangte, um eben jenen Gott zu folgen, denn wenn es ihn nicht gäbe, dann … und da brach mein Traum abrupt ab und die orange blinkenden Lichter der Müllabfuhr weckten mich und säuberten den ansonsten völlig leeren Parkplatz. Genügte dieser Gottesbeweis? Das erste natürliche Licht klärte die Nacht, die Biancas und meine bei 7 Grad Celsius bis aufs Mark auskühlten Knochen nicht zu wärmen vermochte, aber wie nahm uns der Anblick des Bergsees Enol gefangen? Womöglich war das der Gottesbeweis meines Traumes. Die Zacken der höchsten Gipfel funkelten schamhaft errötet und verkündeten einen neuen Tag. Die Idylle des Sees wird unterbrochen von einer Kette an Auto- und Motorradfahrern (privaten Fahrzeugen ist die Auffahrt zum Plateau nur zwischen 21 und 8 Uhr gestattet), denn der Mensch vergeht sich an der Ruhe, die er sucht und wir sind ein Knoten dieses Netzes, welches sich über sie ausbreitet. Taleinwärts gewahrten wir Ausblicke über die Küste hinaus aufs weite Meer, von der aus wir sonst ehrfurchtsvoll in diese Höhenlagen blickten. Raureif ummantelte die Wiesen, Kuhglocken sangen ein Morgenständchen, während auf den beschienenen Kammfluren Geier ungläubig ihre kahlen Hälse reckten, bevor sie sie zurück in den Federkragen steckten. Sie glauben nicht, sie fühlen den neuen Tag, einen Tag, der womöglich kühler als sein Vorgänger ausfallen würde, denn die kalte Jahreszeit naht, vor der wir fliehen wollten, ja unser Versprechen an uns war, keinen weiteren Winter in diesen Breitengraden zu verbringen und der Herbst, der mittlerweile Allgegenwärtige, kündigt uns den selbstauferlegten Abschied deutlicher denn je an.

Morgenstimmung am Bergsee Enol

Der Wald dampft, so als seien die Wolken sein erschöpfter Atem – Sichtbar gewordene Lebendigkeit, die nach Erholung lechzt als habe sie einen zehrenden Kampf hinter sich. Wenngleich die Wolken kein Atem sind, so bleibt trotzdem ungeklärt, ob die Regenwolken auf Tiefflug sind oder Qualmwolken eines Feuers bezeigen. Auch der infernal eingefärbte Himmel weiß darauf keine Antwort. Auf der Rücksitzbank eines in die Jahre gekommenen Alpha Romeos sitzen Gus, Valentina, Bianca und ich eingepfercht auf dem Rückweg von Ballota nach Gijón. Auf dem Schoß transportiert Bianca eine geöffnete Packung Spinat, der Innenraum riecht nach Vanille eines Duftbaumes und übertüncht den Arbeitsgeruch. Aber was haben wir geschafft? Laut Alex, unserem Auftraggeber alles, was er wollte, mehr sogar. Sein Vater Manuel saß dabei zustimmend nickend auf dem Beifahrersitz und trommelte dabei fröhlich einen Siegesmarsch auf der Tupperdose, die er vorher für seine Frau mit Feigen aus dem Garten füllte. Jeder der Familie ist glücklich, dass die Arbeit getan wurde, zu der niemand Lust verspürte. Ein Vorher-Nachher Vergleich scheue ich dennoch, zu geringfügig sind die Veränderungen im bzw. am Haus und dem umliegenden Grundstück. „Hochmotiviert“ würde es Gus mit unverständlichem Gesichtsausdruck nennen. Das Landhaus von Alex riss bei andauernder Verweilzeit mehr Lücken auf als es schloss und das im wahrsten Sinn. Eine Heizung wurde vermisst, verlässliche Elektronik ebenso, denn von vier Herdplatten konnte lediglich eine verwendet werden, eine Lampe zusätzlich würde die Schaltkreise überlasten. Dafür kommt das Wasser kochend aus der Leitung, ein Vorteil bei der Zubereitung von Tee, wenn man wie wir die vorhergehende Nacht sechs Kilometer vom Playa del Silencio durch den strömenden Regen läuft … wenn es wenigstens Heizmöglichkeiten im Haus gegeben hätte … das Dach ist undicht wie die Fenster, es pfeift, schüttelt und tropft unablässig bis ein wasserfallartiges Gebilde die Wand im Flur um eine Nuance dunkler färbt. Was haben wir in der Zeit gelernt? Am ehesten haben wir die Hemmung verloren, Werkzeuge einfach zu benutzen. Ich für meinen Teil kann mittlerweile fast unfallfrei mit eine Spitzhacke umgehen, kann Efeu von Hauswänden lösen, Steinzwischenräume mit einem Kärcher säubern und Räume entrümpeln, indem ich auf Geheiß von A nach B und von B nach C räume, bevor ich wieder von C nach B schleppe. Wir legten unsere pro-aktive Ader frei, deswegen das „hochmotiviert“ von Gus, aber wenn jeder zufrieden ist, dann sollten wir es auch sein. Bei dem Naturschauspiel, welches draußen vorm Autofenster an uns vorbei zieht sowieso. Wir sind eingeladen zurückzukehren, nächstes Jahr, wenn das Haus fertig ist … ein Jahr wiederhole ich skeptisch, ersetze den Punkt mit einem Fragezeichen und blicke Alex an, der fidel von seinen Plänen berichtet, ließ dann ein bis zwei Sekunden Stille einkehren, die er auflöst und revidiert: Vielleicht zwei. Vieldeutig grinst er, ganz als würden die Wolken, die aus den Tiefen der asturischen Wälder aufsteigen auch sein Einschätzungsvermögen vernebeln, aber er ist ehrlich glücklich und irgendwann wird das Haus wirklich fertig sein.

Noch schönes Wetter am Playa del Silencio

Was für die meisten Menschen das Ziel, ist für uns der Start – Santiago de Compostela! Pilgerstadt und Knotenpunkt aller Jakobswege. Auf dem Vorplatz der Kathedrale hagelt es Selfies, jeder möchte SEIN Erfolgserlebnis festhalten, den ‚Camino‘, wie er abgekürzt genannt wird, mit dem Fahrrad gefahren, auf dem Rücken eines Pferds geritten oder klassisch zu Fuß gegangen zu sein. Wir sitzen abseits von den Glücklichen, die sich im Sonnenbad für die Strapazen zurückliegender Wochen belohnen und in jeder denkbaren Pose ablichten lassen. Wir studieren die Gesichtsausdrücke, so muss es sich wohl anfühlen. Ein bisschen verzögern wir damit den ersten Schritt, denn vor der bevorstehenden Strecke haben wir gehörig Respekt, wenngleich als leichter Pilgerweg eingestuft, haben jedoch die wenigsten Pilger ihren kompletten Hausstand dabei. Yaara, eine israelische Studentin, die wir in Barcelona kennenlernten und zufällig in Gijón wieder trafen witzelte: „Wenn manche Leute den Camino gehen, um so eine Art von Heiligkeit zu erlangen, was werdet ihr dann, wenn ihr ihn umgekehrt lauft?“ denn unser Ziel ist der Camino Portugues, präzise: von Santiago nach Porto und damit der folgende Bericht keine ähnlich komplexen Ausmaße wie die Strecke selbst einnimmt, fasse ich mich kurz, aber vollständig, um das, was Stunden dauert, auf Minuten zu reduzieren. TAG 1, den 27.09. – Santiago de Compostela nach A Picaraña (ca. 15 km) Bei jeder Ansicht auf Santiago taucht gleichsam die Kathedrale auf, mächtig sitzt sie zwischen den winzigen Häusern, brennt uns ihren Anblick förmig ins Gedächtnis und verschwindet schließlich doch, zumindest ihr sichtbarer Teil. Es ist bereits 16 Uhr und die Schnellstraße ist präsent, wie wahrscheinlich rund um die Uhr. Wer sie gedanklich ausblendet, genießt den Ausblick über das galizische Land - was davon werden wir noch betreten? Wir sind voller Vorfreude, eine spezielle, die jeder Wanderer zu Beginn einer Tour kennt. Anmerkung: Yaara hatte Recht, wir werden sicherlich unheilig, sintemal wir als erste Unterkunft in direkter Nachbarschaft zu einem Strip-Club nächtigen, dessen blinkende Meerjungfrauen-Leuchtreklame die Betonnische unseres Fensters genretypisch rosa färbt. TAG 2, den 28.09. – A Picaraña nach O Campo (ca. 22 km) Wir lernen gerade die ländliche Seite Galiziens kennen, die aus Ansammlungen von hergerichteten Dörfern besteht, herausgeputzt als kämen täglich eine Menge Menschen hier vorbei … das stimmt durchaus, aber niemand von ihnen geht in ‚unsere‘ Richtung, dafür grüßt die bedeutende Mehrheit und fast genauso viele wünschen „Bon Camino“. Was freundlich klingt, wird bei der Masse an Menschen zu einer nervtötenden Angelegenheit, aber immerhin besser als der Spaß, wenn man uns zu verstehen geben will, dass wir in die falsche Richtung laufen … aber wir laufen richtig. Wobei … Bianca hat sich bereits die ersten beiden Blasen an den Füßen gelaufen und der untere Rückenbereich wie das Schlüsselbein schmerzen von der Belastung der Rucksäcke. Bei mir wirkt der Hüftknochen angeschlagen, auch das linke Knie abwärts, besonders aber die Wade. Was kostet es da an Mühe, sich auf die Umgebung zu konzentrieren, sie zu wertschätzen, wie sie es verdient? Szenen wie aus Märchen. Mit Moos und Flechten bewachsene Bäume im Gegenlicht, bitte vertreibt unsere Schmerzen! Wir werden an Grenzen stoßen, sehr bald schon. Halbtot liegen wir auf dem Bett, die Kirchenuhr des Dorfes hat sich verzählt, sie schlägt und schlägt immerfort im Tempo eines meditativen Om, bis wir tot sind, aber wir sind nur eingeschlafen und werden wieder erwachen.

TAG 3, den 29.09. - O Campo nach Pontevedra (29 km) Der Wetterbericht prophezeit Launigkeit. Gleich im ersten Waldstück fällt Regen durchs Geäst, weich als wolle er niemanden ernstlich verletzen. In einer faszinierenden Synchronbewegung setzt jeder Wanderer sein Gepäck ab, um seine Regentauglichkeit herzustellen. Ein Wechsel, der Gewohnheit an diesem Tag wird. Wie der Griff neben oder über uns in die Rebstöcke, um ihnen händevoll die rosaroten Trauben zu entführen. Sie schmecken süß wie Weingummi (daher wohl der Name?) und sättigen kein bisschen, jede Traube verlangt eine Traube. Gefunden wird schnell, nicht so Abgewinnenswertes im Zielort Pontevedra, aber auch hier wird man fündig und zwar in einer Hafenkneipe, bei der es schwerfällt, sie nicht als poetisch zu bezeichnen, weil jeder Anwesende seine Leidensgeschichte auf der Stirn mit sich trägt. Der verschüttete Sidre spiegelt die zu Lampen umfunktionierten Bierfässer und Fischernetze, während der perlweiße Keramikkrug beim ständigen Anheben kluckst als singe er ein uraltes Lied, das jeder schmerzlich kennt.

TAG 4, den 30.09. - Pontevedra nach Redondela (ca. 19 km) Zwischen Laut, Lärm und Krach – kurz Stadt genannt – zieht unscheinbar ein Smaragdband seine Bahn. Zwei bis drei Baumreihen, keine mehr, genügt ein verwunschenes Paradies zu beschwören, in denen Eichen ihre Arme umeinanderschlingen und Kuppeln aus ihrem Astwerk bauen, die die filigranen Farnwedel darunter beschützen. Taufrische Minze erfüllt die Morgenluft, deren Stille das Plätschern des Lebensquells bricht. Mal überspannt ihn eine Steinbrücke (ein überflüssiges Unterfangen in Anbetracht seiner Schmalheit), mal plätschert er über Stöcke und Gestein, dann wieder fast geräuschlos gleitet er über eine Sandbank hinweg. Von ‚Draußen‘ von den Feldern mit ungeernteten Mais, dort wo die Bauernhöfe umrissen im Nebeln stehen, löst die Sonne selbigen wie Zucker auf bis die Klarheit in die Umgebung fährt. Nur an den Spinnennetzen hängen sichtbare Überbleibsel an Tropfen, die willenlos (oder wollen sie?) abfallen. Sie sind bestimmt wie wir, sie halten sich, solange sie können. TAG 5, den 01.10. - Redondela nach Tui (ca. 33 km) Eine Hügelkette überwinden, von der der Blick zurück ins Tal schweift, die dunklen Eisenbahnbrücken Redondelas, der Bodden des Atlantiks, die Insel, die in ihm schwimmt. Von da ziehen wir außerplanmäßig weiter ins Landesinnere und O Porriño dankt es uns mitnichten. Schaulaufen und Motorheulen einiger Rallyefahrzeuge bei ihrer Präsentation – nichts wie weiter! Mittlerweile setze ich nicht den linken Fuß nach vorn, ich schleudre ihn. Kann Biancas kleiner Zeh noch als solcher gelten oder stößt ihn ihr Körper bald ab wie die Eidechse den Schwanz bei fremder Berührung? Grenzen! Bis zur spanisch-portugiesischen Grenze, die Gebirgsgipfel umgibt ein Rosenkranz aus Abendröte, mitten hinein ins Obdachlosenheim.

TAG 6, den 02.10. - Tui nach Vila Nova de Cerveira (ca. 17 km) Tui mitsamt seinem charakteristischen Kirchberg wird beschienen, Valença auf der gegenüberliegenden Grenzseite liegt im Nebel. Zwei Städte, stellvertretend für zwei Nationen schauen aufeinander, doch sichtbare Grenzen gibt es nicht, nur die Natur zieht sie, so mit dem krummen Flusslauf des Rio Minho oder dem bewegten Morgennebel. Noch liegt Portugal verborgen, doch jeder Kilometer lüftet den Vorhang und bringt blühende Gärten und knarrende Korkeichen zum Vorschein. In unseren Köpfen dämmert, während wir an einer Bushaltestelle rasten und Weintrauben naschen, die über uns hängen, dass wir uns verrechneten. Wir haben die Hälfte des Weges, aber noch zwei Drittel der geplanten Zeit übrig, die wir kalkulierten. Wir können uns entspannen und die Körper schonen.

TAG 7, den 03.10. - Vila Nova de Cerveira nach Caminha (ca. 14 km) Die umliegenden Hügel schmelzen, ihre einstige erhabene Erscheinung verflacht. Nur bei der Mündung des Rio Minho erhebt sich ein gleichmäßiger Anstieg mit vulkanischen Zügen. Der Rio Minho, unser Begleiter, bleibt unbeeindruckt und fließt wie wir gehen – stetig, ein Schritt vor den nächsten, um das Ziel zu erreichen – Plakativ wie der Spruch auf einem Kalenderblatt. Hätten wir von Beginn an immer nur das Endziel Porto im Kopf, wir würden wohl nie dorthin angelangen.

TAG 8, den 04.10. - Caminha nach Viana do Castelo (ca. 30 km) Die Monotonie der Kilometer wirkt meditativ. Das Brausen und Brechen der Wellen zur Rechten sind auditive Einöde, zu unserer Linken hingegen sanfte Hügelketten und vor uns der Fluchtpunkt, der Wanderweg. Ein Leuchtturm zeichnet sich ab, wie auch Mühlen, die ihren ursprünglichen Zweck entbehren, beraubt um ihre Flügel, stieren ihre bunten Fenster zum Horizont, zuerst wurden sie größer, eine nach der anderen, dann passierten wir sie bis sie wieder vollends verschwanden und der Weg sein bekanntes Muster annimmt und es ist wunderbar! Nichts lenkt ab bei einem Blick ins Innere.

TAG 9, den 05.10. - Viana do Castelo nach Castello do Neiva (ca. 15 km) Höhnisch sitzt die Bergkirche Santa Luzia über Viana do Castelo. Gestern empfanden wir ihre Aussicht als Erlösung, als Zeichen des Ankommens nach langem Marsch. Heute verkehrt sich ihre Symbolhaftigkeit. Auf jeder Sanddüne, die mühevoll erklommen werden will, taucht sie auf und signalisiert unmissverständlich, wie nah sie uns noch ist. Abseitige Trampelpfade laufen wir, durch Gestrüpp, sogar über ein gerodetes Waldstück - endlich sollte sie verschwunden sein … Der einzige Geldautomat unseres Zielorts gibt uns kein Geld, der Supermarkt hat außerplanmäßig geschlossen und die Herberge ist voll. Jede Fliege, die meine Nasenspitze umsurrt, stört, vermutlich wurde sie von der Bergkirche Santa Luzia geschickt. Keinen Meter weiter!

TAG 10, den 06.10. - Castello do Neiva nach Esposende (ca. 14 km) Zerknittert von der Übernachtung im Zelt auf dem Kappellenvorplatz entfalten wir unsere Körper schrittweise beim Laufen. Sichtbarer Atem, knackende Gelenke, unser Gang hat seine Zielhaftigkeit verloren, ein ausladendes Schwenken schunkelt uns nun weiter in Richtung Porto. Die Bauern verbrennen das erste Laub mitsamt gesammelten Gehölzbergen, beißender Geruch schwirrt durch die Atmosphäre. Fast geraten wir in eine Treibjagd von Jägern, ihre Hunde bellen bereits, doch die Gewehrläufe bleiben stumm, keine Aufregung ansonsten. Folgerichtig erreichen wir Esposende, portugiesische Bedeutungslosigkeit, wie herrlich den selbstauferlegten Zwang des ‚Sehen-Müssens‘ zu entkommen, da die Stadt das ‚Sehen-Können‘ entbehrt.

TAG 11, den 07.10. - Esposende nach Póvoa de Varzim (ca. 20 km) Holzstege geleiten uns weiter südlich, erst nah, dann dicht an der Küste entlang. Wolken schieben sich aufs Land und bilden eine surreale Glocke um uns. Die Farbe der Gebäudefassaden entsättigt … grau-blau, grau-rot, grau-grau usw. … Schemenhafte Menschen, die sich als Statuen enttarnen und umgekehrt. Angler schauen ins Nichts, Stege führen ins Nichts, dieses Nichts hinter dem wir Porto erwarten … irgendwann, aber hoffentlich übermorgen. Wir sind das künstliche Verzögern leid und wollen ankommen und uns durch Verlängerung nicht der Freude des Wanderns berauben. Mit meinem gefundenen Bambusstecken (noch vor Pontevedra) klopfe ich auf eine Holzplanke des Stegs, aus dessen Rillen Sandkörnchen springen als gaukelten sie Bereitschaft vor mit uns aufzubrechen, aber schlussendlich bleiben sie liegen, während die nächsten Sandkörner der überüberübernächsten Rille beim Weiterwandern fröhlich aufspringen.

TAG 12, den 08.10. - Póvoa de Varzim nach Labruge (ca. 15 km) Wir wandern parallel zu einem Viadukt, welches durch die Öffnungen der Gassen zwischen den Gebäuden blitzt und erreichen sehenswerte Plätze und einen feinangelegten Park, der im Schatten des Santa Clara Klosters ruht. Danach die bekannten Holzstege, die in die Wolken führen, die der Atlantik dem portugiesischen Festland übermacht. Dazwischen Fischerdörfer, wie wir sie zu erwarten hofften. Möwen und Katzen sind die Nutznießer der Plackerei, der harten und leicht romantisierbaren Fischerei. Da späht ein Kopf breit grinsend aus einem Türfenster und freut sich über den Strandstern im Rinnstein, als erwarte er die gelben Blüten. Vor den Strandbars wird emsig gegrillt, der Fang von vergangener Nacht, die Arbeiter trinken Weißwein dazu und schälen eine leuchtend reife Mango – es schaut sich so schön an, wie es klingt, aber warum empfinde ich den Anblick so? Die Lebensumstände mögen hart scheinen, was sie auch sind, aber sie sind gleichzeitig simpel. Das ist es: Die Sehnsucht nach einfachen Antworten!

TAG 13, den 09.10. – Labruge nach Porto (ca. 24 km) Ankommen, endlich ankommen! So wehleidig wie der Satz vermuten lässt, sind wir dennoch nicht, aber wir wollen einen Morgen die Augen aufschlagen ohne Vorgefühl des Wandern-‚müssens‘, wenngleich es uns freilich nie aufgezwungen wurde. Wir kommen an und das mehrmals. Wir tauschen die kleinen Fischerhäuschen gegen hohe Wohnhäuser, Minimalismus mit Überfluss. Durch den Dunst, der uns die vergangenen Tage begleitete, brechen die Schlote einer Öl-Raffinerie. Matosinhos, ein Vorort Portos, mit gefühlt doppeltem Boden zwischen bereitwilliger touristischer Zurschaustellung und zwielichtigen Hinterstübchen. Hafenkräne sind ein nächstes sich abzeichnendes Ziel, dann der Leuchtturm, den ich vor über 8 Jahren fotografierte – hier schließen zwei unvollendete Filme aneinander an. Was mir ab da bekannt dünkt, wird erneuert … der Douro, die Autobahnbrücke, die über ihn verläuft, der Park Roseiral … jeder Ort ließ uns ankommen und dann kamen wir an, in den Gassen ohne Ordnung, die keiner Liebenswürdigkeit entbehren. Morgen mein Schatz, schlafen wir aus … Und haben wir uns eigentlich auf den Jakobsweg gefunden? ERFUNDEN, und uns weiter entdeckt sowie neue Werkzeuge kennengelernt, die künftig helfen und zuletzt die Einsicht, was möglich ist mit dem eigenen Körper, der im früheren Leben und dessen Alltag so sehr über Wehwehchen klagte und dem wir niemals 270 Kilometer zugetraut hätten.


Tage, die so leicht dahingelebt werden, als steigen sie in die Luft hinauf, unüberschaubar, ungreifbar. Seitdem wir auf den letzten Kilometern unserer Jakobswegwanderung in Matosinhos die Hafenkräne sahen, wie sie umrissen als Henker mit schwach gezeichneten Silhouetten dastanden, überfiel uns latente Vorahnung, damit ein letztes persönlich großes Ziel dieser Monate erreicht zu wissen. Die Kräne wirkten übermächtig, gigantisch, vor allem als wir die Hafenbrücke überquerten und ich wiederhole: sie schienen Henker, wenngleich auch glücklicher Vorbote einer vollbrachten Leistung. Das Glücksgefühl war übermächtig zu dem Zeitpunkt, aber die Kräne im Rücken verschwinden lassen hieß für uns auch: Europa allmählich verabschieden. Seitdem sind sieben Tage vergangen und 8 Nächte. Ich liege schlaflos in der Kabine eines Mehrbettzimmers, der Vorhang ist einen Spalt weit geöffnet, durch den das warme Licht der Gassenlaterne direkt durchs Fenster fließt wie reifes Papayafleisch … warum auch immer es das sollte, es erinnert mich eben daran, genau wie ich an die zurückliegende Zeit denke … Spaziergang in Porto im Nieselregen, bedacht darauf bei der steilen Neigung der Straßen und deren glatten Oberfläche nicht auszurutschen. Die Esskastanienstände dampften beruhigend wie Pfeifenköpfe, die Leute standen Schlange für die Grand-Cafés … Schokoladenweihnachtsmänner … türkiser Himmel überspannt die Kirche, deren Türme den Lauf des Douros verfolgen, auf dem Frachtboote für Portwein schippern, aber heute transportieren sie Touristen, die Straßenlinien in die Wasseroberfläche ritzen … erneuter Nieselregen – eine Frau rutscht aus … Sonnenuntergang beim Kloster, bei dem die Beobachter Applaus klatschen als gehe die Sonne nicht täglich unter (tut sie das?). Wie oft ist sie allein heute untergangen? Rede ich von Tagen oder einem Tag? Portos Charaktere, an denen Gorki Spaß hätte Romanfiguren auszuarbeiten, mein Studium bei ihnen beträgt bloß Augenblicke: Ein Mann, der in der Hocke mit seinem Rucksack spricht, wie mit einem Hund, der nicht weiterlaufen möchte … eine Frau, die im rosa Jogginganzug rauchend im Türrahmen steht und auf die eben aufgestellten zwei Campingtische schaut, die jedoch zur Auflockerung der tristen Umgebung eine kunterbunte Wachstuchdecke übergezogen bekamen. Die Dame betreibt wohl ein Restaurant oder so was in der Art … selbe Gasse, ein paar Meter weiter: Eine Shisha-Bar, bei der des nächtens der Parkplatz mit Porsche und Mercedes-Autos zugestellt wird und im Schatten der Häuser Jugendliche lauern, um im Falle des Abschleppens rechtzeitig Alarm zu schlagen. Reine Vermutung meinerseits, nicht so der Mann der vorm Mercado nicht bettelt, sondern zu einer lethargischen Salzsäule erstarrt mit einem Blick schräg zu dem Kopfsteinpflaster herunter. Seine Haare sind fettig zu einer Palme aufgeschrubbelt. Auch Essen, wird es ihm in die Hand gedrückt, behält er da ohne erkennbare Regung … pfiffiger zeigt sich einer der frierenden Obdachlosen beim Theater, der unter dem Bettlacken vorkriecht und freie Parklücken blockiert und Heranfahrende einweist für eine – nennen wir es - Dankesgebühr … eine Frau und neben ihr ein Karton mit einer Handvoll Fische, die sie verkaufen soll. Aus dem Kofferraum des benachbarten Autos wird ihr bereits Nachschub gereicht, aber sie reagiert gar nicht … ein beleibter Mann mit getönter Brille beobachtet mich, wie ich beobachte und beginnt zu lachen, da ich ihn öfter sah, weiß ich: Er lacht stets ohne Vorankündigung, aber regelmäßig. Oder lacht er über mich, wie ich erstaune bei diesen wunderlichen Figuren? Diese Abwesenheit in Porto … Wie sagte es Thomas, ein Schankwirt einer Brauerei? „Ich war nur kurz in Porto. Zuerst ein Projekt mit Handpuppen und dann dies und das, dann waren 17 Jahre vergangen.“ Wie viel Zeit verging also wirklich für uns in dieser Stadt?

Blick auf PORTO

Wenn der Regen nicht an die Fensterscheibe tippelt, dann bläst unnachgiebig der Atlantikwind dagegen - Oft auch zeitgleich. Selten bleiben beide Herbstboten aus. Bereits in Gijón als die ersten Laubbäume ihre braunen und gelben Blätter freigaben, dachten wir, dass wir den unangenehmen Begleiterscheinungen eines Jahreszeitenwechsels nicht ewig entfliehen können. Anzeichen derer gab es zur Genüge, beispielsweise bei der Jakobswegwanderung, bei der wir aber glücklicherweise vor heftigen Wettereinbrüchen verschont blieben. Nun scheinen die Bedingungen aber endgültig zu unseren Ungunsten gekippt. In Coimbra, einer Studentenstadt und ehemaligen Hauptstadt des Landes, war alles gut, wie es so schön heißt, erst mit der Busfahrt zur Küste brachen die Sturmböen los und brachten teilweise ergiebige Schauer mit, die nur kurze Spaziergänge zuließen, wie das Beobachten der Surfer, für die Peniche und das 50 Kilometer entfernte Nazaré eine Art Mekka darstellen … wenn es nichts zu sagen gibt, denke ich und schmunzle auf die eben geschriebenen Zeilen, dann redet man vom Wetter.


Als ich die Bettdecke von mir streife, hüllt mich statt ihrer Kühle ein. Ich bekomme Gänsehaut und nehme in der Dunkelheit, was ich zu fassen bekomme, um mich provisorisch anzukleiden. Der erleuchtete Flur dünkt mir mehr Folterinstrument als hilfreicher Wegweiser und als ich den Türknauf zur Gemeinschaftstoilette drehen möchte, bewegt er sich von selbst. Im selben Moment steht ein Typ vor mir … Anzug, poliertes Schuhwerk, sogar einen Hut trägt der scheinbar aus der Zeit Gefallene. Der Regenschirm ist sein Tastwerkzeug, er wirkt bereit zur Arbeit aufzubrechen oder anderen wichtigen Geschäftsangelegenheiten. Er mustert mich (jedoch ohne Zuhilfenahme des Schirms) und sieht mich in Bandshirt, ausgebeulter Unterhose, Schlappen – mehr ist nicht an mir. Was ist der markanteste Unterschied zwischen uns, abgesehen von dem Offensichtlichen, scheinen er wie ich zu denken?

Lissabon ist keine Stadt für uns wie jede, in ihr wurde unsere Heiratsurkunde ausgestellt, gewissermaßen lieben wir sie, nicht verbrieft durch öffentliche Dokumente, sondern von Herzen. Lissabon kann uns nie enttäuschen, gleich wie viele Touristen über ihre sieben Hügel streifen, sie bleibt für uns wertvoll als Hort, an dem wir uns immer aufs Neue wohlfühlen. Lissabon ist für uns schön, auch manch andere Städte sind dies für uns auf ihre eigentümliche Art und Weise: Berlin, Prag, Barcelona etc. und all sie eint unser Wunsch sie nie komplett zu entdecken, es soll stets Gründe zur Wiederkehr geben. Am Tejo-Ufer zieht die Stadt wie auf einem Fließband präsentiert vorbei – Handelsplatz, Alfama-Viertel, Hafenkräne, Lagerhäuser mit Arbeitern, Cafés für Arbeiter, runtergewirtschaftete Häuser, die ihre mondäne Schönheit trotz oder vielleicht wegen bröckelnder Fassade erhielten und dann wie ein abrupter Schnitt beginnt auf einmal die Neustadt um den Platz der Nationen herum mit Seilbahn, Ozeanium, dem Oriente-Bahnhof und selbstverständlich der Vasco-Da-Gama-Brücke. Die Stadt wächst ungemein, obwohl das, was wir sehen, nicht mit dem Lissabon übereinstimmt, welches wir kennen und lieben. Am südlichen Ufer des Tejo herrscht die Jesusstaue über den Häuserdächern, hinter deren Rücken wir uns davonstehlen zur Küste Caparica, ein Strand von 20 Kilometer Länge liegt dort ausgebreitet, lediglich die Surfschulen nutzen ihn. Quallen liegen wie sterbende Fischaugen im Sand, sehen auf die abgefallene Küste roten Gesteins und hinüber zur Mündung des Flusses auf das sich öffnende Meer. Auf der anderen Flussseite liegt entfernt Cascais, der frühere Wohnort der Noblesse, die wir beim vorletzten Lissabon-Aufenthalt besuchten. Da wird uns plötzlich klar, dass wir in diesen Tagen alles besehen in Lissabon, was für uns noch offenstand. Eine komplette Woche gibt uns die Möglichkeit dazu, was wir zuvor nicht konnten. Wir konnten deswegen nicht, weil die sonst begrenzte Zeit uns dazu verleitete geliebte Orte aufzusuchen und dort zu verweilen wie der Miradouro Portas do Sol, auf dem wir im Sonnenaufgang heirateten. Wir lernten und wir lernen Lissabon anders kennen, auch zwischen dem Sehenswerten sozusagen … Gibt es nun keine Gründe mehr für eine Rückkehr? Was weiß ich, warum mich der Typ im Anzug derart mustert, der Geruch, den er nach sich aus der Toilette zieht, ist der eines jeden Menschen, auch wenn wir verschiedene Wege gehen, er zur Arbeit und ich wandelnd über die Straßen der Alfama, später über einen Flohmarkt, noch später womöglich eine Kunstausstellung besuchend, aber das ist auch egal. Woran ich gerade denke, sind nicht die großen angepriesenen Sehenswürdigkeiten der Reiseführer. Ich denke an den Estrela-Park nach einem Regenschauer, die Frau neben uns, die ihre Pizza währenddessen verschlang, das homosexuelle Pärchen, das sich kurz vor Einsatz des Regens liebestrunken auf dem Rasen wälzte, wie ich Bianca ein Essay über Hopfenpflücker von George Orwell vorlas und all dieser Erinnerungsfetzen münden in die fünfblättrigen Blüte eines Ceiba-Baums, der imposant und sonnenbeschienen wie eine Erleuchtung im Park stand. Zart rosa auslaufend bis ins gelbliche hinein waren die Blütenkelche gefärbt, von denen die Abgefallenen einen kitschigen Teppich bildeten. An einer Astspitzen entdeckte ich feiste Knollen, die demnächst aufplatzen werden – Es gibt immer Gründe für einen Wiederkehr in Lissabon.

Blick von der Ginjal-Terrasse auf Lissabon
Unsere Arbeitsstätte: Castillo del Agua, LA CABRERA

Ausstieg in La Cabrera. Wo? La Cabrera, das ist die Ortschaft vor der Sierra de la Cabrera. Ah ja. Nähere Ausführung erwünscht? Eine Gemeinde mit weniger als dreitausend Einwohnern, um hier einen Fuß aus dem Bus zu setzen, braucht es schon einen Grund. Für die Mehrzahl an Menschen, die nicht hier wohnen, heißt dieser wohl wandern, wie auch für uns, allerdings bloß sekundär, primär verließen wir hier den Bus in aller Frühe zum Antritt unserer zweiten Freiwilligenarbeit. Ein Nachtbus entführte uns zuvor von Lissabon mitten ins Zentrum der iberischen Halbinsel ins madrilenische Hinterland. Ab diesem Zeitpunkt gibt es zwei Formulierungen, die die Erfahrung beide treffend beschreiben, aber in sich kaum unterschiedlicher sein könnten. Eine positive und damit für die Allgemeinheit ‚aufbereitete‘ Version der Dinge und eine wirkliche, die zwar alle subjektiven Irrtümer beinhaltet, aber ein realistisches Bild unserer Gefühlslage malt. Wir konnten uns für keine entscheiden. Die positive Formulierung: Am Ende einer Straße erhebt sich ein Schlösschen, deren zweistöckige Terrassen sich an einen Turm klammern, der in den azurblauen Himmel ragt. Das ist also der Ort, an dem wir 15 Tage wirken. Wir wurden empfangen und können direkt mit der Arbeit beginnen. Wir handwerken hier, malen dort und putzen überall ein bisschen und gewähren somit einen minimalen Beitrag zur Fortführung dieses Projektes, welches neben der Vermietung des Schlosses ein holistisches Center mit alternativen Medizinschulungen und für Patienten elektrische wie Akupunkturbehandlungen beinhaltet. An Aufgaben mangelte es nie, so sollen weitere Unterkünfte fertiggestellt werden, um diese später zu vermieten, das Schloss muss instandgehalten und die Freizeitangebote um Swimming-Pool, Tennis- und Basketballplatz ergänzt werden. Zum Feierabend und an freien Tagen wandern wir entlang der wunderschönen Bergkette, die zur Sierra de Norte Madrid gehört und deren Gipfel im gemächlichen Flug Gänsegeier umkreisen. Findlinge, enorme Steinklötze mit grotesken Fratzen liegen verstreut in der Botanik herum, manche von ihnen zieren sogar die höchsten Gipfel. Herbstliche Pappeln leuchten wie Flammen aus der Landschaft, während die Nase voll ist von Orangen-Thymian und Rosmarin, die wie Unkraut gedeihen und jedes Ende eines Ausflugs wird gekrönt durch die Rückkehr in unser Schloss, zumindest für etwa zwei Wochen. Die wirkliche Formulierung: Völlig erledigt von der Nacht erreichten wir ein Bilderbuchschloss, wie wir es uns wünschten. Darüber hinaus machte die Anlage allerdings einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck, obwohl das Potential dieses Projektes hervorstechend ist. Die Gastgeberin begrüßte uns verschnupft und auf Spanisch. Warum ich das hervorhebe? Nun, der englischsprachige Teil des Projekts ist für ein Seminar nach Indien verreist, die Kommunikation, sowie die Instruktionen gestalteten sich schwierig. Wir sind Anfänger und hätten niemals ein Projekt mit reinen Spanischkenntnissen ausgewählt. Was wir schnell verstanden, war, dass penibel auf die Arbeitszeiten geachtet wurde, entweder fingen wir direkt am Ankunftstag an oder hatten fünf Minusstunden auf dem Konto. Außer uns war ein weiterer Freiwilliger anwesend, der ebenso wenig Englisch sprach, der sich aber bereits einen Überblick verschaffte: „Die beginnen hier alles und bringen nichts zu Ende. Soll mir recht sein, heute ist mein letzter Tag.“ Danach drehte er den Lautsprecher mit Heavy Metal auf Maximum und bediente lachend die Kreissäge. Einen kompletten Arbeitstag (5 Stunden) verbrachte ich damit einen Schuppen auszuräumen, dessen Wand aus Naturstein bestand, um Winkel für ein Regal anzubringen, von denen von vornherein absehbar war, dass sie nie halten werden, ergo habe ich einen funktionsfähigen Raum zu einer Rumpelkammer umgestaltet. Im Schloss haben wir die Decke eines Zimmers von weiß auf hellgelb gestrichen, der Unterschied war so marginal, dass die Auftraggeberin keinen Unterschied sah. Belassen wir es bei zwei Beispielen. In den freien Minuten mussten wir raus, wir fühlten uns eingesperrt von den holzvertäfelten Wänden. Es roch streng nach Katzenkot und wir froren die ganze Zeit, eine Zentralheizung war vorhanden, wurde aber stets ausgeschaltet und ohnehin, warum heizen, wenn kein Fenster und keine Tür verschließbar ist? Allmählich verstanden wir, warum sie verschnupft war, aber nicht, warum wir untergeordnete Aufgaben erfüllten. Pure Zeitverschwendung dachten wir uns, fast wie Lohnarbeit, aber als Trostpflaster hatten wir wenigstens die sagenhafte Natur vor der Haustür. Der Spruch ,das kommt mir spanisch vor‘ gewann an Dimensionen und wir zählten die Tage bis zu unserer Abreise.

Sierra de la Cabrera

Zwischenzeitlich dachten wir an Abbruch der Freiwilligenarbeit, da sie weniger freiwillig, dafür umso mehr nach Arbeit schmeckte. Die Arbeit blieb vom ersten Tag an nutzlos. Ohne Mucks säuberten wir ein Therapiezimmer, um im Anschluss gesagt zu bekommen, Handwerksarbeiten darin durchführen zu müssen, aber haben wir dafür unsere Jobs gekündigt, um uns am Abend vorm Einschlafen zu fragen: Wozu? Dieses Gefühl kennen wir zur Genüge, also warum quälen? Wir suchten nach Unterkünften, fanden aber schließlich keine, die günstiger war als null Euro und uns darüber hinaus Essen gewährleistete – so ist das, dachten wir uns: Lässt die Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit nach, übernehmen praktische Gedanken das Leitmotiv. Was früher Lohn war, ist nun Logis und Verpflegung. Ernüchternd, aber auch diese Zeit verging und das umso schneller, als neue Volontäre dazu kamen. Zuerst Leo und später Esteban. Leo ist Argentinier und reiste aus Andorra an, um seinem vorläufigen Endziel Porto näher zu sein, welches wir vor kurzem hinter uns ließen. Er möchte dort einen Wohnsitz annehmen und eine Weile arbeiten, wenigstens für fünf Jahre. Estebans Pläne sind kurzfristiger, er hat eine Ein-Mann-Band und Konzerte in Litauen und Estland angenommen und dafür einen Großteil seines Hab und Guts verkauft, um seine ritualistische Industrial-Musik bekannter zu machen. Auch er ist auf Zwischenstopp hier. Esteban flog von Cancún aus, unser Ziel, wo wir am 14. November landen werden. Bei diesem Zufall der Verbindungen drängte sich mir die Metapher auf, dass wir Zugvögel seien und uns abends gegenseitig Geschichten erzählen, die herausstellen, wie unterschiedlich unsere Gefieder sind, aber dass sie letztlich eben trotzdem immer aus Federn bestehen. Interessensüberschneidungen unverkennbar will ich damit sagen. Zum Beispiel verabscheuten wir alle die Arbeit (auch sie nicht der Arbeit wegen, aber wer sieht gerne einen 25 kg-Zementsack an einem dünner werdenden Strick über seinem Kopf kreisen?). Wir genossen die gemeinsamen Stunden und Esteban lud uns herzlich in seine Heimat Costa Rica ein. Für Leo und Esteban war das Projekt Mittel zum Zweck zur Überbrückung eines Zeitraums, wir hingegen suchen nach mehr … nach einem Ort, an dem wir wirklich helfen können und daher kam es uns trotz liebgewonnener Gesellschaft gelegen aufzubrechen – einmal mehr. Wann werde ich müde, dies ständig aufs Neue zu betonen? Vielleicht, wenn der Aufbruch, der unmittelbar mit einem Neuanfang zusammenhängt, sich abgenutzt hat, wenn er seinen Reiz verliert und seine Bedeutung abgestumpft ist, doch dann könnten wir auch gleich zurückkehren und mit der Erfahrung abschließen.

Nach über 5700 km werden unsere Spuren in Europa enden, hier auf den Boulevards von Madrid!, am Rande der pulsierenden Verkehrsadern, auf dessen Bürgersteigen das Leben schreit: Kauf mich! Mode und Kosmetikläden, Fast-Food, hippe Cafés, Cocktail Bars etc. ein wahres Paradies, indem du lediglich Geld brauchst, um teilzunehmen. Vom Plaza de España bis zum Palacio de Cibeles laufen wir über die Gran Vía, bestaunen die dekadenten Hotelfassaden und die Dachfiguren, die durch die schillernden Farben des letzten Himmelslichtes schreiten - Erhaben und stolz. Bald übernimmt das künstliche Licht die Herrschaft über die Nacht. Blinkende Reklamen, Theater- und Musicalvorstellungen, monströse Werbebanner, die ganze Gebäude überspannen von Apple und Airbnb, das ist Europa, eine bunte Pralinenschachtel mit süßen Versprechungen, die allesamt letztlich gleich schmecken. Wir probieren davon, werden ein Konzert von We Lost The Sea besuchen und ins Prado Museum gehen, haben Spaß und vielleicht trinken wir sogar ein abschließendes Bier in einer Brauerei und werden wehmütig, warum nicht? Immerhin sind wir Kinder Europas und wurden konsumorientiert geprägt, aber damit ist bald Schluss, nicht dass wir uns der Illusion hingeben, dass es woanders besser ist, es ist schlicht anders. Ohnehin steht die gewaltige Erkenntnis dieses ersten Kapitels fest und zwar, dass wir nicht annähernd den Reichtum der mannigfachen Möglichkeiten nutzten und bisher entschieden zu wenig in unserem Leben ausprobierten. Folgerichtig kann es darum nur heißen: Wir müssen und werden mehr ausprobieren!

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