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24.03.2023 - 06.05.2023

Aktualisiert: 10. Mai 2023

Chignahuapan – Zacatlán – Cuetzalan – Xalapa – Córdoba – Orizaba – Veracruz – Boca del Río – Catemaco – Villahermosa – Palenque San Cristóbal de las Casas – Comitán de Domínguez – Quetzaltenango – Tzununá – San Marcos La Laguna

Ein Monat verfließt so unversehens im Zeitenstrom, was ihn zusammenhielt, triftet auseinander, in Schollen, von denen einige davontreiben, andere sich in der Uferböschung der Erinnerung verfangen, doch das, was von den vergangenen Wochen als Extrakt erhalten bleiben wird, ist ein Wort: Frieden. Mein letzter Tagebucheintrag ist nunmehr knapp einen Monat her. Jeden Tag hätte ich schreiben können, um die Einfachheit des Landlebens auf einem Bauernhof zu preisen, aber ich entschied mich dagegen. Wobei … eine bewusste Entscheidung war es nicht, es passierte aus lauter Zufriedenheit, die das Niederschreiben selbiger nicht hätte steigern können. Anfangs fühlten wir uns in die kalten Temperaturen des Winters gestoßen. Lange Unterwäsche kam zum Einsatz, Mütze, Schal usw. Der Kamin wurde abends beheizt, die Decken bis unters Kinn gezogen und der warme Widerschein der Flammen am Dachgebälk verfolgt bis Dunkelheit herrschte. Klimpern naher Regentropfen auf den Dachschindeln, Donner hinter den Hügeln. Es gewitterte beinahe täglich, dazu das Wetterphänomen Norte, ein Tiefdruckgebiet, dass von der USA an der Golfküste entlangzieht und hier in Chignahuapan für dichten Nebel und niedrige Temperaturen sorgte. In diesem Monat bekamen wir die schrittweise Erwärmung mit, die vom Tag stetig auf die Nacht überging, sodass Mütze und Schal bald der Vergangenheit angehörten, genauso wie ein paar Zwiebelschichten unseres Deckenbaus. Im Kamin liegt das gleiche angekokelte Holzstück wie vor 2 Wochen. Wir lernten viel in diesem einen Monat. Wir sammelten Feuerholz, besserten Zäune und Tore aus, halfen bei der Errichtung eines neuen Gewächshauses, legten vom Umgraben bis zum Pflanzen ein Gemüsebeet an mit Stangenbohnen, Salat, Kohlrabi und Kürbis, jäteten Unkraut, misteten den Schafsstall aus, eine dicke zehn Zentimeter gepresste Schicht Kacke, und verkleinerten das Stall-Areal, um Lagerfläche zu schaffen. Nebenbei gab es Routineaufgaben: Tiere füttern und Wasser geben, nach Hühnernestern suchen und Eier sammeln, eines davon befand sich zwischen den stachligen Blättern eines Nopal-Kaktus, sowie 6 Wochen junge Küken einfangen und separieren usw. Nichts von den aufgezählten oder von den unlängst den Zeitstrom der Vergessenheit hinfort gerissenen Tätigkeiten fühlte sich nach Arbeit an. Wir lebten in einer familiären Gemeinschaft und hielten das Rad mit am Laufen. Wir kochten gemeinsam, backten Kümmel- oder Bananenbrot, saßen auf der Bank vor dem Bauernhof und genossen die weite Aussicht bei saurem Pulque. Abschließend tranken wir nach Einbruch der Nacht wärmenden Tee und spielten dazu Karten, Conquián - der mexikanische Klassiker. Tage ohne echte Höhepunkte (vielleicht schrieb ich deswegen kein Tagebuch?), wie man meinen könnte, dafür eine Erfahrung vom Leben in Eintracht. Eine französisch-mexikanische Familie, die in dem Bauernhof eine Airbnb bezog, lud uns zu einem Tagesausflug ein, wir spazierten durch Wälder unter Flechtenbeladenen morschen Bäumen an Bachläufen entlang, ließen uns vom Nieselschleier des Tulimán-Wasserfalls berieseln und schlenderten durch Zacatlán mit seinen Mosaik verzierten Wänden in beeindruckender Canyon-Lage, von dessen vielfältigen Aussichten die Bergdörfer verstreut hervortraten, in denen die indigene Bevölkerung wohnt. Auch direkt hinter dem Bauerngehöft konnten wir spazieren, führten die Hunde über Felder in märchenhafte Täler. Wir besuchten Freunde von Isabell und Armin und bereiteten Grillfeste vor, Mexikaner lieben Alkohol, erfinden sogar Vorwände, wie Ameiseneiersuche, die aber vergessen werden, sobald das Glas erhoben wird. Ich werde diesen Monat nie vergessen – wie kitschig das klingt, wenn man es selbst schreibt, statt wie sonst davon zu lesen … Mit meinen kotbesprenkelten Klamotten, die Haare ein einziges Knäuel lag ich unter einer Weide und las Gedichte von Rilke als ein Sinnbild dieser Zeit. Zufriedenheit mit dem, was man hat – was wöllte man sich auch mehr erhoffen als Frieden? Es ist beruhigend, einen solchen Kraftort zu kennen, der in Zukunft zur Stätte der geistigen Wiederkehr werden wird. Wir werden oft zurückkehren und wir wären länger geblieben, das erste Mal, dass dieses Gefühl uns während unserer Reise heimsucht, aber das Visa und damit die mexikanische Zeit sieht ihrem Ende entgegen.

Öko-Bauernhof, CHIGNAHUAPAN

Wir bewegen uns in einer Waschmaschine fort. Die beschlagene Scheibe durch das Atmen der Insassen, die vor Überfüllung des Busses stehen müssen, ja einander fast auf den Schoß rücken, und dem Wechselspiel der äußeren Luftfeuchtigkeit, lässt gerade so viel Sicht zu, dass wir die rotbraunen Pfützen sehen, tief genug, dass Reptilien darin eine neue Heimat fänden, denen der Fahrer ausweicht, wenn schon keine Kurven durch die Straßenführung existieren, dann dadurch. Überhaupt entfernen wir uns von dem Vorbild dessen, was als Straße bezeichnet werden kann. Es tropft von den Dächern, von den Bäumen, vom Himmel, wir erwischen den Pausenmodus und ziehen über die Pflastersteine von Cuetzalan. Zwischen Bananenpalmen und Kaffeeplantagen spazieren wir bis zum Dschungelrand, umzingelt von Baumfarnen und dem Geräusch eines nahen Wasserfalls. Fortsetzung des Waschgangs. Wir werden eingeschäumt, will heißen eingenebelt, die Wege mit ihren Aussichten in Tälern verwischen, wir orientieren uns an Straßenlaternen, die den Umfang ihres Leuchtradius vervielfältigen durch die trübe und feuchte Atmosphärensuppe, sie sind statische Maschinenglühwürmchen. Die Waschmaschine läuft auf Hochtouren. Das Prasseln ans Unterkunftsfenster lässt kein Ende erahnen, doch schließlich schweben außer Atem die leeren ausgeregneten Wolken durch die Sierra. Die Kolonialbauten sind blankgeputzt, die ikonische Barockkirche von Cuetzalan ist so sauber wie nie. Aus den wiedererwachten Tälern fließt die Seifenlauge der vergangenen Nacht. Wunderschön, so rein und sauber die Reise fortzusetzen.

Iglesia De Los Jarritos, CUETZALAN

Betrachte ich meine angewinkelten Fingergelenke, sehe ich miniaturisiert, was Draußen in der Landschaft vorüberzieht: Die Form aneinandergereihter Hügel mit femininem Schwung. Sie scheinen eineiig, identisch, was sie natürlich unmöglich sein können. Wie schmückendes Beiwerk erscheinen ein paar von ihnen mit dunkelgrünen Stellen, das sind die Waldanteile, weit genug entfernt um keine Einzelexemplare zu erkennen, andere Hügel sind umrandet von Weidezäunen, die den grasenden Kühen die Grenzen vorgeben. Eine Kirche sitzt in diesem Bild mit zwei Türmen in Zuckergussfarbe als wäre sie erbaut worden, um vergessen zu werden, zu schade für ihre religiöse Bestimmung, wo sie sich so hübsch zwischen den Farbflecken ausnimmt. Sie ist ein Schmuckstück, doch überflüssig in der vorhandenen Vollkommenheit. In der zweiten Sitzreihe des Busses schläft ein Mann mittleren Alters. Kurzhaarschnitt und ansonsten ausschließlich bestehend aus Mund, der weit aufgerissen eine anziehende Höhle bildet. Er schlief bereits als wir einstiegen, er schlief während eines Staus, der sich bildete durch einen Notfall in einem Reisebus. Nach einer dreiviertel Stunde traf der Krankenwagen ein, die Polizei indes kam zuvor zu Fuß angetrottet. Davon weiß er nichts. Bloß bei Ankunft, wenn er den Schlaf abgeschüttelt hat, wird er sich wundern, was geschehen ist, wenn er die fortgeschrittene Stunde registriert. Er kennt die Aussichten bestimmt hinlänglich. Sie sind für ihn soweit abgenutzt, um als alltäglich zu gelten. Ich hingegen lobpreise sie, als hätte ich zum ersten Mal eine Berglandschaft zu Gesicht bekommen. Das stimmt nicht. Was stimmt, ist, dass ich mich noch viel mehr darin ergehen lassen würde, wenn aufgrund des Platzmangels mein Rucksack nicht auf meiner Blase lasten würde. Um unter die Betrachtungen einen Schlussstrich zu ziehen, vergleiche ich. Das klingt freiwilliger, als es tatsächlich geschieht. Ich denke an den Bundesstaat Oaxaca, diese Schroffheit treffe ich hier nicht, aber beides beeindruckt mich. In Yucatán gibt es keine Erhebungen und im viel gelobten Chiapas vermisste ich bislang das Einzigartige. Warum diese Vergleiche? Warum gibt es eine imaginäre Auflistung von Erlebnissen? Wozu ist das nützlich? Filterung - ich muss nicht lange in meinem Gedächtnis wühlen, an was ich mich gerne zurück erinnern möchte, ich greife einfach zu. Die unteren Plätze der Liste, die Abstiegsplätze, wenn man so will, können vergessen werden. Der Mann in der zweiten Reihe kommt zu sich. Wovon hat er wohl geträumt? Wenn es überhaupt so etwas wie einen Plan gibt, dann sieht dieser vor nach Möglichkeit keinen Weg doppelt abzufahren, deswegen bewegten wir uns in Mikrobussen langsam und manchmal fast stehend von Ort zu Ort. Sollte der öffentliche Verkehr versagen, halten wir den Daumen raus, was bislang nicht notwendig wurde. Der Verkehr in Mexiko ist zwar nicht planbar, aber funktioniert. Als wir in Xalapa aufbrachen, entschieden wir uns für einen Reisebus. Nicht des Komforts wegen, sondern aus Faulheit. Der ADO-Bus mit überflüssigen Multimediaangebot fuhr statt in die nächstgrößere Stadt Córdoba zuerst bis zur Küste und von da zurück zu unseren Wunschort. Das bedeutete, dass wir von schwarz-grauen Regenwetter in sonnendurchfluteten Weiten der Golfregion gelangten und von dort direkt ins Regenwetter zurückkehrten und noch dazu auf einem Highway, den wir in zwei Tagen erneut befahren. Von minimalem Missmut gepackt stiegen wir in Orizaba aus und sahen an diesem, wie auch am Folgetag den Grund unserer Anreise, den höchsten Berg Mexikos, in üppige Wolkengewänder gekleidet. Wir stiegen zu einem nahen Park auf, liefen in pfadfinderischer Genauigkeit die Balkone ab, die in unterschiedlicher Himmelsrichtung positioniert waren, um mehr als den Ansatz des Berges zu sehen, der uns - als wir vor Wochen von Tehuacán nach Puebla-Stadt fuhren - mit seiner Schneekuppe entzückte. Ohne irr zu gehen, suchten wir einen Alternativweg. Unterhielten uns dabei über unsere innere Werkeinstellung, kamen zu dem Schluss zwei negative Menschen zu sein, die sich an die mathematische Hoffnung klammern, dass Minus mal Minus Plus ergibt. Bianca wurde demnach nicht von einer „Scheißmücke“ gestochen, sondern trat in intensiven Kontakt mit der Natur usw. Wir kamen tatsächlich wieder in Orizaba an, direkt neben einer rot gestrichenen Kirche fassten wir Fuß und traten vom Trampelpfad in die Stadt. Beim Pausieren entdeckten wir einen weißen Tiger und mit ihm einen ganzen Zoo, der kostenlos an der Flussseite verlief, tranken eine mexikanische Perversität aus Eis, unterschiedlichen Sirup-Sorten und Gummitieren und liefen am Uferweg entlang zwischen Picknickbänken und Hängebrücken, tranken Kaffee, dann noch einen. Die Öffnung des Türeingangs wurde mit dem Grün des Parks ausgefüllt und durch das Fenster schienen die warmen Farben einer malerischen Kirche. Weiter bei einem Bäcker aßen wir die typisch fluffigen Brötchen, Pambazos - eine lokale Bekanntheit, die geringfügig schwerer als Luft wogen und fast nichts kosteten. Wir tranken Pulque - kurz: Wir durchlebten einen guten Tag, den wir uns zuvor anders wünschten. Vorstellungen, je genauer sie sind, entlarven sich als Enttäuschungen, treten sie nicht ein – besser man hat keine. Binsenweisheit, natürlich. Aber was soll die Motivation beim Reisen sein, wenn nicht ein bestimmtes Ziel ein loses Versprechen verheißt? Um es positiv zu formulieren: Erst die Abweichungen verursachen das Abenteuer und ist es nicht das, was wir suchen?

Parkaussicht in ORIZABA

Die schneebedeckte Bergspitze wollte uns doch nicht entlassen ohne uns von ihrem Dasein überzeugt zu haben. Als sei sie schüchtern, versteckte sie sich jedoch prompt wieder hinter dem Wolkenkleid, aus dem sie vor lauter Gemütlichkeit schon gestern nichts herauslockte. Statt Bergen besteigen wir heute den nächsten Reisebus, obwohl wir uns schworen vorerst darauf zu verzichten, aber gute Vorsätze halten bloß bis zur nächsten Entscheidung. Als sollten wir uns nicht allzu sehr den Kopf darüber zerbrechen, spricht uns unser Sitznachbar an, der noch nicht verstehen konnte oder wollte, wieso der Sicherheitsmann der Busstation uns nicht den Zugang zum Bus gewährte, obwohl dieser abfahrtbereit dastand. Wir unterhielten und zerstreuten uns alle drei. Wir erzählten ihm grob von unseren vergangenen Stationen in Mexiko und blieben in Mazunte hängen, weil er diesen Ort liebt. Er traf dort Leute, die Schokokekse verkauften, sich damit finanzierten und ihren Unterhalt verdienten. Dafür kündigten sie Job und Wohnung, um Kekse zu backen und sie am Strand zu verkaufen. Sechs Tage die Woche Arbeit und einen Tag Party. Wieso? Weil es schlechtere Jobs gibt, als am Strand zu spazieren. Jemand anders machte etwas anderes, um seine US-Pension aufzubessern, mit der er in Mexiko trotzdem besser lebt als in den Staaten. Dann fiel ihm wie ein Geistesblitz die Frage ein: Wie kamt ihr auf Mazunte? Er sah dort Frauen in Burka im Hostel und dieselben Personen Minuten später nahezu nackt ins Meer steigen. Es hat sich so ergeben, antworteten wir. Er nickte und erklärte sich selbst: Ich musste erst ‚billig‘ und ‚schön‘ im Internet suchen, dass ich darauf kam! Ich empfehle es jeden, weil es kaum ein Mexikaner kennt, aber schaut euch an! Deutsche, Europäer allgemein, Länder des Ostblocks, von denen ich nicht einmal wusste, das es sie gibt, bereisen einen Küstenort, den ich unter Umständen noch immer nicht kennen würde, obwohl ich Mexikaner bin. Im Verlauf der weiteren Unterhaltung wurde uns klar, dass wir, als wir unsere ersten Mitfahrgelegenheiten bei Valladolid nahmen, nichts kannten und uns stets Empfehlungen einholten, mittlerweile können wir Mexikanern Tipps über ihr eigenes Land geben. Tamales sind ausverkauft! Natürlich nicht, aber die Häufigkeit ihres Angebots schwankt und hier in Veracruz war es fast komplett rückläufig. Dieses „fast“ ist meine Hintertür, falls es sie doch geben sollte, stattdessen standen Personen aller Sozialschichten an den Ecken der Häuserblocks und verkauften Volovanes, gefüllte Blätterteigtaschen. Am Hafenbecken mühten sich Freistiltaucher ab, um Muscheln für Touristen zu sammeln. Meine Hochachtung galt weniger der Leistung derart sauber polierte Exemplare zu finden, statt dem Sprung ins Dreckwasser zu wagen. In den Seitengassen, nahe am strahlenden Zócalo, lag eine Frau in unglaublicher Pose, die beim Aufwachen für höllische Schmerzen sorgen muss. Wie bei einer Gummipuppe, war ein Bein angewinkelt und lag schräg hinter ihr zum Kopf führend, während das zweite ausgestreckt einen Spagat probte. Mich erinnerte der Anblick an einen akrobatischen Tanzsprung, bloß dass die Dame währenddessen ins Koma gefallen ist.

BOCA DEL RÍO

Weiter im Süden der Stadt in Boca del Río ist das Leben heil! Fischfang mit direkter Verarbeitung eine Handbreit vom Sand des Strandabschnittes entfernt, Krieg gibt es ausschließlich zwischen Möwen, Pelikanen und Zopiloten und das obwohl daneben ein Kriegsschiff unter der Etikette eines Museums dahinrostet. An einem Maschendrahtzaun spannte geschäftig ein Fischer sein Netz auf und begann zu flicken. Als wir um die Ecke bogen, sahen wir einen Vater mit seiner Tochter in einem aufgeblasenen Pool planschen – ein Parkplatz weniger, aber darauf kommt es in diesem Vorort nicht an. Am populären Badestrand machte ein Händler mit mobilen Verkaufsstand Platz für einen, der exakt dieselben Luftmatratzentiere anbot. Was die Episoden verband: Veracruz, diese langgezogene Küstenstadt, die durch ihre Heruntergekommenheit bestach. Bröckelnder Putz ist en vogue. Fehlende Dächer und Wände, angebrannte Fassaden, zugemüllte Hauseingänge als Markenzeichen, nicht jedoch die Regel. Die Regel sind Häuserreihen unter denen eines den Zusammenbruch nahe ist. Teile der Fliesen des Bürgersteigs sind rausgebrochen und der Vergleich zu einer Zahnreihe mit „Schönheitsfehlern“ drängt sich auf. Eine Lücke oder ein fauler Zahn, was auch immer. In einem Park, werden wir von einem schrägen Typen angesprochen, der wohl nicht wusste, ob die Situation eine Sonnenbrille verlangte oder nicht. Durch die Windschutzscheibe eines parkenden Autos sahen wir unmissverständliche Handzeichen in unsere Richtung deutend, die uns beratschlagten lieber schleunigst den Park zu verlassen. Wir gingen ja schon. Ohnehin wollten wir nicht ewig bleiben, nicht in Veracruz. Ob die Stadt einen weniger maroden und zwielichtigen Charme hätte mit Tamales anstatt der Blätterteigtaschen? Wie dem auch sei, so ist sie das breite Lächeln eines Skorbutkranken.

Zwielichtiger Charme, VERACRUZ

So weit raus aus der Stadt Veracruz wie möglich, soweit der Linienbus trägt. Von da springen wir von Pick-Up-Ladefläche zu Ladefläche und erreichen die Bundesstraße. Ein Fernbus hält, der Fahrer fordert 150 Pesos pro Person, wir winken ab und halten den Finger raus. „Die sind alle überfüllt. Sonntagsausflüge wahrscheinlich.“ „Lass die entscheiden, ob sie uns mitnehmen.“ Dass ein einfacher Pickup 12 Personen mitsamt Gepäck und Hund transportieren kann, hätten wir auch nicht für möglich gehalten. Ich komme mir vor, wie in einem Windkanal. Beim Blinzeln erkenne ich eine gelbe Eisenbrücke und dahinter eine Hafenstadt nahe einer Mündung. Wir überholen den Fernbus, der Fahrer hat Zeit uns zu erkennen, mich der sich bei jeder Tope, den Geschwindigkeitsreduzierern, nach vorne wirft, um nicht nach hinten zu fallen. Der Wind lässt mich die drohenden Verbrennungen nicht spüren. Dämlicher Busfahrer! … 150 Pesos … dann biegen wir links ab, falsch für uns und der Bus fährt unbeeindruckt weiter südwärts. Ein weiterer Sonntagsausflug nimmt uns kurzdarauf mit. Wir überholen einen LKW, der in der Kurve auf der Seite liegt. In Veracruz sahen wir zuvor einen toten Motorradfahrer … und wir hofften lediglich keine Bindehautentzündung abbekommen zu haben. Ich komm da nicht mehr mit. Nicht mit dem Kopf und mittlerweile auch nicht mehr mit dem Stift, mit dem ich die Reise festhalte, ja eigentlich nur zu skizzieren versuche. Standen wir nicht erst gestern auf der Hafenpromenade von Veracruz, umzingelt von Menschen, die den Samstagabend feierten?

Eyipantla-Wasserfall, SAN ANDRÉS TUXTLA

Wir waren in Catemaco, legendenumwobener Süßwassersee, dessen Wasserspiegel zur Regenzeit sinkt und in der Trockenperiode angeblich steigt mit Hexenvorkommen, die aber genauso selten waren wie rote Aras und Ameisenbären, die von den ausgeblichenen Plakatwänden glotzten. Übrig blieb ein netter See umkränzt von geschwungenen Hügeln und reicher Vegetation. Avocado-Bäume etwa, Blätter am Straßenrand, die größer als mein kompletter Oberkörper sind und unreife Mangos, die Bianca auf den Kopf fielen. Inseln schwammen in dem See und bei der Rückfahrt der Strecke, die wir erwanderten und damit begannen den See mit seinen unscheinbaren Fischerdörfern zu ermessen, bekamen wir gesagt, was es noch Interessantes zu sehen gäbe. Dabei besuchten wir am Vormittag den Eyipantla-Wasserfall, dessen Rauschen von einem Regenbogen aufgefangen wurde. Ein 20- und ein 17-jähriger nahmen uns mit, als wir den Daumen zur Weiterfahrt raushielten, wollten Lieblingsmusik von uns wissen und bekamen Stoner Rock alla Red Fang. So groovten wir über Hügel, sahen den See im Dunst aus unseren Augen schwimmen, während ein Kurzvideo für Instagram aufgenommen wurde. In die Handykamera lächeln und danach erneutes stramm stehen in der positiven Annahme gleich weiter mitgenommen zu werden. Der ehemalige Bürgermeister von San Andrés Tuxtla und sein Arbeitskollege warnten uns vor der Gefährlichkeit der Gegend - er musste es ja wissen - und brachten uns in die Nähe der nächstgrößeren Stadt mit regelmäßiger Busanbindung, aber nicht ohne uns zu Tacos und Empanadas zum Frühstück einzuladen. Ja, es war noch früh. Wir fuhren weiter bis nach Villahermosa und kreuzten eine Wegmarke, die wir vor 4 Monaten ablegten. Genau hier in der Stadt mit ihrer Illusionslagune, wo der Unterschied zwischen Baumstamm und Krokodil lediglich der Überlebenstrieb ist. Da wurde ich von einem zugedröhnten Hobbyrapper gefragt, ob ich gay sei. Ich verstand absichtlich falsch und antwortete: Ja, ich bin okay, danke und du? Da schüttelte er verneinend und angewidert seine Locken und betrachtete die zweideutigen Wölbungen, die aus dem Wasser hervorragten. Zwei Mädchen verwickelten uns, nachdem wir einen Käse-Hefezopf fertig aßen und der Zucker komplett über unsere schwitzigen Gesichter und Arme verteilt war, in ein Gespräch. Die Freude, dass wir aus Deutschland kommen, war enorm. Sie stiegen aus ihrem ausgeliehenen Tretvehikel, mit dem sie am See entlangfuhren und wollten ein Foto mit uns. Eine wässrige und eine als Ersatz gekaufte leckere Pozol später erkannten wir den Niedergang der Sonne am schwindenden Licht an den Zwillingstürmen der Kathedrale. In einem fensterlosen Zimmer, denke ich über das Vergangene nach, nachdem ich durch Rückenschmerzen, die die zu weiche Matratze verursachte, nicht zurück zum Schlaf finde. Draußen hupt es, der rege Stadtverkehr schiebt sich in Ampelphasen über die Straßen von Villahermosa, die Stadt, die mir so durcheinander, wie beim ersten Besuch vorkommt. Statt Vogelgezwitscher rufen am Busterminal Leute in nervig wiederholender Stimmlage "Palenque, Palenque, Palenque!" - unsere nächste Station. Unsere Rucksäcke stehen aufbruchbereit an die Tür gelehnt, sie wurden seit der Ankunft kein Mal geöffnet, sogar der Schutzbezug umhüllt sie noch. Wenigstens bin ich aber nun wieder mit dem Stift hinterhergekommen.

Fischerdorf, CATEMACO

Zwei Aras fliegen nebeneinander über saftig grüne Wiesen. Zum Ausgang der Trockenzeit geizt die Natur im Bundesstaat Chiapas weiterhin nicht mit ihrer Verschwendungslust, was fast genauso erstaunlich ist, wie die bunten Papageien. Ein malerischer Auftakt beim Gang zu den berühmten Maya-Ruinen von Palenque. Geflammte Blüten, wie aus Wachs, die zum Boden wachsen und Terrassen mit den ikonischen Pyramiden, auf denen akribisch gegen den Unkrautbewuchs angekämpft wird. Da denke ich an Armin vom Bauernhof, wie er meinte, dass er sein ganzes Leben gegen das Gras kämpft, aber langsam im Alter beginnt er zu begreifen, dass er den Kampf wohl verlieren wird. Wenn man den Dschungel klein kriegen will - wir reden aus Erfahrung - bleibt dies keine einmalige Aufgabe, nirgends bestätigt sich mehr, dass die Natur lebt und dass sie atmet. Wir schauen von einem Tempel, gelegen auf den südlichsten Hügeln der Hochebene und schweigen über die grazilen Dächerkonstruktionen der Tempel ins Grün und obschon wir nichts tun außer stillsitzen, glitzern unsere Arme taubenetzt, man weicht auf und kann sich bei Unbedachtheit wegwischen. Tiefer im Dschungel gibt es weitere Ruinen von denen man viel lesen kann, aber jede Erzählung endet mit Unbestimmtheit, vielleicht ist alles auch erfunden. Eine Reise zu Ausgrabungsstätten befriedigt das Auge, wie die Architektur in die Landschaft integriert wurde, die fachlichen Informationen sind für Liebhaber. Ist es wichtig mehr zu wissen als was man sieht und anfassen kann? Gäbe es die Helfer nicht, die die Ruinen ausgraben, würden man in Laub- und Erdhäufen wühlen, bis man darunter irgendwann auf Steine einer Mauer stieße. Überall Natur. Egal ob bei den Wasserfällen von Agua Azul, Roberto Barrios oder Minsol-Ha, überall macht sie die Augen vor Überfülle müde. Türkise Farbströme, die über rötliches Gestein brausen - willkommene Abkühlung und permanente auditive Aufdringlichkeit. Verringert sich ihr Rauschen in den Ohren, so hört man Störgeräusche, ein langanhaltendes Piepen, dass keine Unterbrechung findet. Insekten. Basilisken fliehen unter unseren Fußschritten im Eiltempo auf zwei Beinen, und rennen die Böschungen hinab. In der Nase nistet sich ein Geruch von feuchtem Moder an der Grenzschwelle zwischen angenehm und unangenehm ein. Wir wissen schon jetzt, dass der Dschungel mit all seinen Sinneseindrücken Begleiter der kommenden Monate sein wird, vielleicht sind wir von der ewigen Sehnsucht zu dieser Dschungelnatur danach geheilt, wer weiß. Morgendlich ist die Atmosphäre noch klar, aber mit zunehmendem Stunden fließt das typische Blau des Himmels in die Berge und füllt sie aus. Übrig bleibt ein Weißton mit latentem Hang zur warmen Farbtemperatur. Und diese Atmosphäre lädt sich auf bis kaum wahrnehmbare Umrisse eine unwahrscheinliche Landschaft zeichnen: Den Dschungel selbst. Ein Märchen. Am meisten wohl für die Personen in weiter Ferne, die diesem Überfluss entbehren.

AGUA AZUL

Der Highway 199 zwischen Palenque und San Cristóbal de las Casas würde, wenn er durch Europa führen täte, als das Highlight unter den Panoramastraßen gelten, gleich neben der Atlantikroute in Irland, der Amalfiküste Italiens oder der französischen Verdonschlucht. In Deutschland würde er wahrscheinlich in einem Atemzug mit der Schwarzwaldhochstraße genannt. In regelmäßigen Abständen gäbe es Parkplätze mit Aussichtsbalkonen, um melancholisch seine Blicke zwischen den Bergeinschnitten fliegen zulassen. Stattdessen ist die 199 in Mexiko ein Scheideweg. Offiziell wird er von der renommiertesten Busgesellschaft ADO gemieden, die lieber einen Umweg von 300 Kilometern fährt, statt diese solide asphaltierte Straße auf direktem Weg zu nutzen. Überall auf der Strecke solidarisieren sich die Gemeinden mit roten Sternen zu der zapatistischen Guerilla-Einheit der EZLN, die ihre leeren Kassen mit Überfällen in Form von Straßensperren auffüllt. Einige Reiseblogs warnen, man solle lieber einen Bogen um den Abschnitt machen, die nächsten hingegen trampen sogar. Vor fünf Tagen wurde in San Cristóbal de las Casas das Oberhaupt der Kaufmannsinnung niedergeschossen, zudem soll er nahe Kartellbeziehungen gehabt haben. Es brechen offene Schusswechsel aus, in denen zwei weitere Menschen sterben. Folge? Ausrufung des Ausnahmezustandes, die US-Botschaft legt ihren Bürgern nahe sich schnell zurückzuziehen. Der Bürgermeister verurteilt die gestiegene Gewalt scharf und ruft das Militär auf die Agenda. So lesen sich die Schlagzeilen am Abend vor unserer geplanten Weiterfahrt. Einerseits denken wir, dass, wenn es Straßenkämpfe gibt, die Straßensperren wohl ausbleiben, immerhin wird jeder gebraucht, andererseits wäre es verantwortungslos in ein Gebiet mit verhängtem Ausnahmezustand zu fahren, indem die Medien noch am Morgen von Schüssen berichteten. Verantwortung wem gegenüber? In erster Linie uns und natürlich unseren Familien und denen wir etwas bedeuten, aber wie soll man das abwägen? Auf Instagram sieht man in aktuellen Hashtags der Stadt Fotos in sexy Posen von Influencern, Leute wie sie genüsslich Kaffee schlürfen und sich ihre Fingernägel aufhübschen. Wir fahren! Eingequetscht in Sitzen zwischen Gepäck jeglicher Art, die es dem Durchschnittsmexikaner ermöglichen seinen Rucksack zwischen die Beine zu nehmen und trotzdem genügend Platz zur Verfügung zu haben. Ein Umstieg, der die Sitzverhältnisse weiter verschlechtert. Die sagenhafte Landschaft lenkt ab. Drei Generationen einer Familie verkaufen ihr Obst und Gemüse an Vorbeifahrende. Ich versuche mich währenddessen meiner Meditationsübung zu besinnen, denn nachdem die Klimaanlage ihren Dienst versagte und die Ahnung von Frischluft im Businnenraum ausblieb, steigt die Platzangst gemeinsam mit dem erhöhten Pulsschlag, wenn das Tempo rausgenommen wird. Etwa eine Straßensperre? Nein, nur ein Geschwindigkeitsreduzierer und davon gibt es einige. Die roten Sterne auf den Bretterverschlägen der Bergdörfer fliegen wie Warnungen an mir vorüber und dann? Ankunft in San Cristóbal de las Casas. Wo sind Schüsse? Sollten wir in Deckung gehen oder gleich weiterfahren? Nichts, das Leben geht vonstatten, als sei nichts geschehen. Märkte, Cafés, eine Band spielt im Pavillon des Zócalos, trotzdem wäre eine Entscheidung gegen San Cristóbal de las Casas und damit eine komplette Änderung der Reiseroute nachvollziehbar gewesen. Wo ist der Schritt, der die Grenze zur Verantwortungslosigkeit überschreitet?

Friedliche Morgenstimmung, SAN CRISTÓBAL DE LAS CASAS

Klammheimlich haben sich Essens- wie Trinkgewohnheiten eingeschlichen. In Ermangelung an fleischlosen Alternativen suchten wir den nächsten Bäcker auf und griffen uns, was lecker aussah. Wer kennt nicht den verführerischen Geruch von Backstuben, denen zu trotzen, besonders mir, da genetisch bedingt, schwerfällt? Selten nimmt man ein trockenes Brötchen, sondern greift den mit Zucker bestreuten Keks und den schliffen Kuchen und und und. Der Beutel platzt fast und auf einer Parkbank wird er bis auf sein Eigengewicht erleichtert. Ein weiteres Beispiel: Zu den morgendlichen Tamales gab es oft Atole, ein Sammelbegriff für verschiedene warme Getränke, wie z.B. Milchreis, Schokolade, Champurrado usw. Was sie eint ist die Eigenschaft eine nicht unerhebliche Menge Zucker zu beinhalten. Wenn die Hitze drückt, befreit eine Kokos-Horchata mit Eiswürfeln getrunken in schattigen Gefilden von der Backofenumluft, in dem wir uns befinden, auch hier lautet der Geschmacksträger Zucker. Zuckersüchtig sind wir noch nicht geworden, aber selten haben wir die Jahre zuvor ihn in dieser Menge konsumiert. Plötzlich verstehe ich die Mexikaner, die von klein auf mit dieser Droge gefüttert werden. Im Wickeltuch bekommen sie bereits die Plastikflasche mit dem roten Etikett als Untergrund und geschwungenen Buchstaben! Klar, wenn wie in San Cristóbal de las Casas der CocaCola-Konzern auf den Trinkwasserquellen sitzt und seine Getränke billiger als Wasser verkauft. Wenn man Wasser kauft dann Ciel, eine Eigenmarke von CocaCola. Dem entgehen wir, aber nicht dem Zucker allgemein. Beim Zähneputzen stellte ich deutliche Zahnsteinrückstände fest, die das Zahnfleisch empfindlicher machten, somit stand der erste Arztbesuch der Reise bevor. Eine Stunde verbrachte ich in San Cristóbal de las Casas mit den Fingern in die Lehne des Stuhls verkrallt. Ich wurde nicht im Hinterhof oder auf der Straße von einem vorbeifliegenden Straßenfeger behandelt, wie man eventuell gemeinhin denken würde. Ich erlebte in dieser Stunde mehr High-Tech als ich es in Deutschland jemals sah und bezahlte anstatt die von meinem letzten Zahnarztbesuch prognostizierten 100 Euro zur privaten Zahnreinigung umgerechnet 25. Ich werde mehr auf die Einschränkung von Zuckerkonsum achten, verachte weiter CocaCola, die es bis dahin gebracht haben, dass die Mexikaner in der Umgebung das Gesöff zu Ritualen als heiliges Getränk benutzen, werde jedoch mein Unverständnis in puncto "wie kann man so viel Zucker konsumieren?" zurückschrauben, denn ungesunde Gewohnheiten (wie viele mehr) passieren schleichend. Und die letzte Lehre nach dem Aufenthalt in San Cristóbal de las Casas? Bedenken, die ich ohnehin zuvor schon als antiquiert einstufte, dass die Qualität eines Arztes sich nicht an denen der deutschen Normen messen ließe, verschwanden. Soll es das gewesen sein? Nach 167 Tagen und damit knapp 6 Monaten, der letzte Tag in Mexiko? Wir stehen uns ratlos gegenüber, fühlen uns gelähmt, wollen den Tag besonders gestalten und unternehmen früh einen Ausflug von Comitán de Domínguez zu den Kaskaden des El Chiflon. Das Wasser leuchtet wie Edelsteine, funkelt in der Sonne, wenn es über Steine talwärts stürzt, der Hauptwasserfall wirkt als fiele sein Wasser direkt aus der grauen Masse der Wolken, doch überall sehen wir Botschaften, die von Abschied künden. Aufgestützt auf einem Holzgeländer schauen wir in die Bäume, folgen den sich verknotenden Lianen und den Iguanas, die sie als Kletterwege nutzen. Lianen... bei Taxco saßen wir auf ihnen und planschten in einem natürlichen Pool... Iguanas ... sie verschwanden in hoher Anzahl in den Baumwipfeln des Leuchtturmparks von Isla Aguada. Jeder Wortfetzen verkommt zu einer Reminiszenz der zurückliegenden Zeitspanne in Mexiko. Sollen wir noch etwas erleben? Wir sind platt, so sehr, dass sich die Antwort fast von alleine gibt. Wir schauen weiter den Iguanas zu. Ihre Ruhe ist ihre Stärke. Wir belassen es dabei! Dann sehen wir eine Cenote mit blauem Wasser weniger. Hätte das den Aufenthalt in Mexiko noch wesentlich aufgewertet? Kann sein, aber wir sind hungrig, kaufen Gemüse und wollen dazu frische Tortillas, alle Läden dicht - Hätte man ahnen können. So sitzen wir vor einer weißen Gemeindekirche und Essen Fertigtortillas aus der Packung. Tolles Ende, aber der Hunger ist gestillt. Trotz all dem Chaos, dass hier herrscht, hat sich das Land für uns entwickelt und ähnlich groß wie der Respekt vor Mexiko vor 6 Monaten war, ist er nun vor Guatemala. Je länger wir nachdenken, desto absurder scheint diese Mexikowehmut. Was werden wir vermissen? Ohne eine ellenlange Aufzählung zu beginnen, könnte man genauso sagen: Was verändert sich überhaupt? Doch das werden wir erst in Guatemala oder noch später erfahren und dann wissen, was wir an Mexiko vermissen.

EL CHIFLON WASSERFÄLLE

Unspektakulärer Grenzübergang. Ein bürokratisches Scharmützel der mexikanischen Behörden später, fanden wir uns zusammengepresst zu sechst in einem Taxi auf den letzten Kilometern bis zur Grenze wieder. Ein Markt flankierte mit seiner Lautstärke jeglichen Konzentrationsversuch und gipfelte in einer Mariachi-Kapelle direkt vor der guatemaltekischen Migrationsbehörde. Viel geredet wurde dort nicht - 90 Tage Visum für die CA-4-Staaten Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua scheinen im Verhältnis der zurückliegenden 6 Monaten beinahe stressig. Dem Beamten war es egal und wir liefen bergan und tauschten beim ersten Offiziellen unsere Pesos in Quetzal - ein Mann mit einer Bauchtasche, der mit einem fetten Bündel Geldscheine auf offener Straße herumwedelte, immerhin hatte er einen einlaminierten Ausweis um den Hals hängen. Durchgeschwitzt erreichten wir den Chickenbus, das sind amerikanische Schulbusse, die über 150.000 Kilometer auf den Tacho haben, die für einen Spottpreis verkauft und in Werkstätten aufgepimpt werden. Dieser neudeutsche Ausdruck passt perfekt, denn die Busse erinnern an Karnevalumzugswagen. Innerlich sind sie unbequem - Ledersitzbänke und metallischer Haltebügel, dann trifft doch eher der Vergleich eines Achterbahnwagens zu. Die tief eingeschnittene Schlucht gab uns die Strecke vor, inzwischen machte der Bus seinen Umgangsnamen alle Ehre. Eine Frau gab ihrem Huhn zu trinken. Eingepfercht ist hier jeder wie ein Huhn der Massentierhaltung. Die Sitzbänke reichten plötzlich für drei und ein kleiner Junge schlief an meiner Schulter ein. An einer Verkehrsinsel sollten wir aussteigen. Wir protestieren, da wir glauben den doppelten Preis nach Quetzaltenango bezahlen zu müssen. Ohnehin hat uns die Hektik und der alte Umrechnungskurs der Peso einen viel zu hohen Preis annehmen lassen. Es hat keinen Zweck, da standen wir nun mit zwei Stückchen Papier, auf denen nichts stand, aber der Anschlussfahrer wusste Bescheid und nahm sie uns ab - wir zahlen nichts. Dann verschwand er hinter uns, obwohl wir in der letzten Reihe saßen und kletterte während der Fahrt geschickt und affengleich über das Dach. Wieso, das wissen wir nicht, nur dass der Bus uns außerhalb des Stadtzentrums rausschmiss, diesmal endgültig. So liefen wir durch Außenbezirke von Quetzaltenango, unrealisiert, dass wir uns in einem anderen Land befanden. Denke ich an Guatemala, möchte ich wandern. Den Wecker frühstmöglich klingeln lassen und hinaus in die Morgenfrische. Pickups mit Unterbodenbeleuchtung und lauter weiteren ablenkenden Lichtanlagen fahren an uns vorüber, sonst ist Flaute auf den Straßen von Quetzaltenango. In den Parkanlagen tummeln sich Straßenhunde zum Rudelbumsen und Frauen verkaufen geflochtene Blumenkreuze, die zur Ansicht oder für Weihen verkauft werden. Wir steigen in den ersten Chickenbus, wenngleich die Blessuren und blauen Flecken vom Anreisetag noch Schmerzen hinterließen. Pudelmützen liegen offenbar im Trend, überall ragen Bommel hinter den Ledersitzbezügen hervor.

Wanderaufbruch, QUETZALTENANGO

Wir steigen und steigen, fliegen bald wie ein Drache hoch über die Stadtdächer, die wir bald nicht mehr voneinander trennen können - Eine Stadtmasse auf die wir schauen, während wir uns den Santa Maria Vulkan hochhieven - Baumreihe für Baumreihe. Nach der nächsten folgt die nächste usw. Als Begleiter haben wir zwei Strolche, die uns den Guide ersetzen. Über den Wolken am Gipfelkreuz sehen wir in der Ferne die gleichmäßige Vulkanspitzen, einige davon rauchen.


Ausblick vom Vulkan SANTA MARÍA

Ein kleinerer von ihnen, der unter einer Wolkendecke begraben liegt, rumort und stößt eine Rauchsäule aus, die wie eine surrealistische Statue emporsteigt und unter ständiger Modellierung umgeformt wird, bis der kühlende Wind sie vertreibt.

Welch prähistorischer Anblick! All die Vulkane! Auf dem zugewachsenen Krater beten eine Handvoll Guatemalteken, sprechen durcheinander, wodurch ein permanentes Flüstern im Wind entsteht - Dios mio! Wir geben unseren tierischen Begleitern von unserem Essen ab und teilen das Wasser. Natürlich begleiten sie uns in Hoffnung eines Nachschlags bis zurück zum Ausgangspunkt, aber obwohl sie Strolche waren, rührten sie von alleine das Essen nicht an und liefen uns beim Abstieg niemals in die Quere. Sie konnten es nicht wissen, aber auf mich machten sie einen prophetischen Eindruck, denn die kommenden zwei Wochen helfen wir in einer Hundeauffangstation.


Man stelle sich folgendes vor: jeder der vier angelaufenen Geldautomaten im Zentrum von Quetzaltenango verlangt mindestens 5 Euro Gebühren und vom Hauptplatz fährt nicht, wie gedacht, der Bus zum Ausgangspunkt San Marcos La Laguna am Atitlán-See - von den Ortsnamen abgesehen, Umstände der Kategorie ‚kleinere Unebenheiten‘.

Endlich der (ersehnte) Chickenbus nach San Marcos, erneut kommt unnötige Hektik auf, indem der Koordinator unsere Rucksäcke kurzerhand schnappt und unbefestigt auf das Busdach wirft, dabei fällt der Daypack zu Boden. Nach einigen hundert Metern und wesentlich mehr Hektik stellt sich heraus, dass der Fahrer ein anderes San Marcos anfährt. Wir bekommen unser Gepäck zugeworfen und gehen die Hauptstraße erneut entlang. Nässe auf meiner Hose. Beim Sturz kam die Sojasauce zu Bruch und verbreitete ihre markante Duftnote im Rucksack über Brillenetui, Portemonnaie und Kamera. Der nächste Bus mit eindeutiger Aufschrift in Leuchtbuchstaben fährt angeblich nicht in den Zielort, den er angibt. Nächster Versuch. Diesmal wird der Fahrtpreis zwischen Einstieg und Bezahlung erhöht und an der Kreuzung in Richtung San Marcos La Laguna biegt der Bus nicht ein, sondern bittet um Ausstieg. Trotz mehrmaliger Absprachen, müssten wir einen weiteren Bus nehmen. Wir trotzen und fahren zur ausgewiesenen Endstation, aber auch die wird nicht bedient. Wir bezahlen nichts und steigen trotzdem um. Endlich am Atitlán-See nach dieser unerwarteten Odyssee. Wenn ich die raue Überfahrt mit ihren markerschütternden Aufschlägen des Motorbootes auf der harten Wasseroberfläche beiseiteschiebe: eine ‚Verkettung von Ärgernissen‘, die ein Kaffee auszugleichen vermag.

Tzununá, eine Ortschaft der neuen Sorte, da sie erst seit wenig Jahren mit Tourismus in Kontakt gerät. Einige Hippies aus San Marcos La Laguna sind umgesiedelt und beleben die vorwiegend indigene Gemeinde. Dass ‚Hola‘ zur Begrüßung keine Reaktion hervorruft, darf somit nicht verwundern.

Perros Libres, TZUNUNÁ

Angekommen in der Hundeauffangstation, weiß niemand der vier Volontäre von unserer geplanten Ankunft. Statt der erwarteten 30 Hunde bellen uns knapp 70 (Welpen mitgerechnet) hinter dem Gitter entgegen. Überall nachvollziehbares Chaos. Der Gemeinderaum ist Küche und Hundeschlafgelegenheit. Während wir uns vorstellen, beschnuppern mich hinten und vorne Hundenasen, auch die Schuhe scheinen interessant. Die Freiwilligen scheinen überfordert, aber mit Herzblut bei der Sache. Arbeitszeiten gibt es nicht, genauso wie freie Tage. Unser Schlafplatz ist ein winziger dunkler Raum. Alle Betten darin sind belegt, also werden wir auf losen Brettern direkt unter einem Wellblech nächtigen, das offen für Insekten jeglicher Vorstellungskraft ist. Die Dusche ein Schlauch eines Abzweigs vom örtlichen Wasserfall und das Klo eine Baracke außerhalb des Hauses. Ekel überfällt mich, wie ich ihn nie zuvor erlebte, obwohl schlimmere Erfahrungen hinter uns liegen. Aufgrund der beginnenden Regenzeit und der Ansteckungsgefahr von Krankheiten werden in das viel zu kleine Kabuff 5 Welpen einquartiert, die Mutter, eine Straßenhündin wird nachts herein gelassen, um ihre Jungen zu säugen, deren Quengeln ein mir unbekanntes Gute-Nacht-Lied bildet. Ohne Wissen, ob ich Minuten oder Stunden schlief, wache ich wie der letzte Höhlenmensch auf, klettere die wacklige Leiter hinab, weiche den Urin- und Kotflecken aus und greife zur Schaufel, um den Mist im Hauptareal aus vergangener Nacht zu bereinigen. Während der Tagesplan erstellt und nach Prioritäten eingestuft wird, rühre ich meinen Haferschleim mit Hundehaaren um. Mein Ekel, dass dies die Aussicht der kommenden zwei Wochen wird, wächst ins Unermessliche. Kein Rückzugspunkt, keine Hygiene, keine Freizeit. Wie entscheidet man da? Ich lasse die Katze aus dem Sack und breche ab. Bianca bricht daraufhin in Tränen aus, sie hatte so viele Vorstellungen für den Freiwilligendienst, da sie Tiere, Hunde vor allem, über alles liebt. Die Dankbarkeit der Fellnasen und die Streicheleinheiten reichen ihr, sie wollte ihre Bedürfnisse unterordnen, aber mein Ekelgefühl akzeptiert nichts neben sich. Die Enttäuschung sitzt tief, tiefer als man meinen mag, über mich selbst und dann Bianca enttäuscht zu haben. Wir sind uns ganz offensichtlich uneins, das erste Mal innerhalb der Reise sind wir unterschiedlicher Meinung. Das ist noch nicht alles: Grundsatzfragen keimen, die die Fortführung der Reise, insbesondere ihre Art und Weise hinterfragen, ihren Sinn und das Ziel. Fast wünsche ich mich in einen langweiligen Drehstuhl eines noch langweiligeren Bürojobs - fast. Wir haben Fuß gefasst und sind angekommen am vorläufigen Tiefpunkt, am schönsten See der Welt.

Der schönste See der Welt?

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