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07.01.2023 - 23.03.2023

Miahuatlán– San Jose del Pacífico – Mazunte – Oaxaca de Juárez – Puebla – Cholula – Atlixco – Mexiko-Stadt – Cuernavaca – Tepoztlán – Taxco – Amecameca – Chignahuapan

„Die Ironie der Sache ist die, dass unzählige Mexikaner in die USA immigrieren, um das zu machen, was wir hier tun: Auf der Ladefläche eines Pickups hocken und zu den Feldern rausfahren.“ „Aber die bekommen Geld dafür!“ Bianca, ich und Orlando lachen lauthals drauf los und können uns darüber kaum wieder einkriegen. „Und ich?“, fügt Orlando hinzu. „Mach das für eine Matratze, die im ersten Stock eines Friseur-Salons liegt.“ Uns kommen die Tränen bis Orlando, der 45-jährige Amerikaner mit venezolanischen Wurzeln hinzufügt: „Mama wäre stolz auf mich!“ Einige Minuten später haben wir drei uns beruhigt und denken offenbar jeder einzeln über die Ernsthaftigkeit des zurückliegenden Gespräches, weshalb der Satz „Wir machen das für die Erfahrung“ die Rechtfertigung ist, die die Waagschalen ins Gleichgewicht bringt. Harte Tage liegen hinter uns. Wir frohlocken, als uns mitgeteilt wird, dass wir die Chance bekommen bei der ersten Agaven-Ernte des Jahres mitzuhelfen, zu dem Zeitpunkt können wir nicht wissen, dass die harten Tage erst beginnen würden … Am Morgen, kurz nach Sonnenaufgang trafen wir uns bei den Farmern und nachdem alle Mithelfer aufsprangen, fuhren wir mit zwei Pickup-Trucks durch die staubige Landschaft, die uns in einen undurchdringlichen Sepiadunst einnebelte, aber kurzzeitig ein Fenster in die weite Landschaft bis zu den Bergen öffnete. Angekommen am Agavenfeld galt es die nächsten Tage eine Reihe zu ernten, die später schätzungsweise 20.000 Dollar einbringt. Wir bekamen bis zur Haarspalterei geschärfte Macheten und eine Technik erklärt, die uns möglichst verletzungsfrei halten sollte. Die langarmigen starren Blätter sollten stückweise abgeschnitten werden, so nah wie möglich an die Piña, dem Herzstück der Pflanze. Danach wurden sie der Erde enthoben, entwurzelt, weiter zurechtgestutzt und schließlich aufgeladen. Einfache Arbeitsschritte, die unter ständiger Kraftprobe Stunde für Stunde komplizierter wurden. Nachdem die erste Fuhre weggebracht wurde, hielten wir zusammen Lunch. Es gab Tortillas (manche rösteten ihre über offenem Feuer), Bier und wie sollte es anders sein: Mezcal. Jeder trank ohne Ausnahme, selten bleibt es bei einem Glas. In der Pause wurde wenig gesprochen unter den Arbeitern, die sich seit Jahren kennen, wenn sie nicht sogar in irgendeinem Verwandtschaftsgrad miteinander stehen. Auf Abruf sind sie bereit und helfen einander, wenn sie zur Farmarbeit gebraucht werden. Harmonie erfüllt die Luft im Einklang mit dem zu sein, was die Leute hier seit Generationen über gemeinsam tun. Jeder Tropfen Mezcal entspricht einen Schweißtropfen, heißt es. Unerfahrene wie wir würden das Verhältnis neu taxieren. Vor allem nach der Arbeitsunterbrechung wurde jedes Ausholen zum Schlag eine zähe Probe, bei der sich Unkonzentriertheiten zeigten. Sonne oder Mezcal taten wohl ihren Anteil daran, dass die Agaven zu Hydras mutierten, deren Köpfe ich zwar mit der Machete abhieb, die aber stets nachzuwachsen schienen und mir ihre Spitzen in die Arme, Beine und sogar in den Fuß durch den festen Wanderschuh trieben. Auf meiner grauen Hose bildeten sich dunkle Blutflecken. Die Schürfwunde vom Aufladen einer 150 kg Piña am Vormittag brannte und sah nach einer unangenehmen Reaktion des ätzenden Saftes aus. Allgemein machte ich eher den Eindruck an einer Messerstecherei teilgenommen zu haben oder Komparse in einem Robert Rodriguez-Film gewesen zu sein. Trotzdem fuhr ich den Pick-up mitsamt den Freiwilligenarbeitern zurück, genehmigte mir davor einen Mezcal, schaltete aber bis maximal in den dritten Gang, weil die oberen zwei ein müder Dobermannkopf blockierte. Wir, die macheteschwingenden Freiwilligen, fielen der Reihe nach wie Baumstämme auf die Matratzen in der Unterkunft, manchmal braucht es eben doch nur die.

Mittagspause auf der Agavenfarm

Und die Erfahrung? Jorge, der Projektleiter meinte: „Wenn ihr keine Chapulines (Heuschrecken) ausprobiert, ward ihr nicht in Oaxaca!“ Da dachte ich an das erhabene Gefühl zum Tag ‚Horneado de Agave‘ dem Mezcalero Wencho die Hand zu schütteln, der durchgefroren nach 10 Stunden Arbeit und über einem Liter Mezcal in seinem Blut einem glücklichen Schattengebilde seiner Selbst glich. In der Nacht sieht man die Glut besser und so schichtete er Stein um Stein zu einem gleichmäßig erhitzten Steinhaufen auf, auf den die noch umliegenden Agaven-Herzen die kommenden Tage kochen werden. Niemand spürte von uns die Schwere der Arbeit, die es uns dennoch abverlangte, die mit der Kettensäge zerteilten Agave-Herzen puzzleartig aufzuschichten, sie mit Planen zuzudecken und komplett mit Erde zuzuschaufeln. Die Gemeinschaft der Anwesenden lachte, niemand war mehr nüchtern. Qualm stieg dampfend auf, als die Cowboystiefel eines Auserwählten den künstlich erschaffenen Hügel bestiegen, der ein gebasteltes und mit Blumengirlanden verflochtenes Kreuz in die Stelle stach, in die er zuvor ein Kruzifix in die Erde ritzte und mit Mezcal benetzte. Er entblößte sein Haupt, hob das Glas und trank auf eine gute Ernte. Die Stille, die in dem Moment herrschte, das Innehalten eines jeden, der um den Gemeinschaftsgeist wusste, ließ mich eine nie geahnte zusätzliche Ebene in dem hochprozentigen Getränk ahnen. Mezcal ist Arbeit, aber Mezcal bedeutet auch Gemeinschaft, ein Geben und Nehmen im besten Sinn. Ich denke, wir haben Oaxaca auch ohne Insektenessen kennengelernt, denn das Leben ist nicht die Summe dessen, was man nicht tut, sondern das, was man tat.

Mezcalweihe des ersten Ofens des Jahres

Wann werde ich die Berge, die die Agaven-Felder in Miahuatlán umgeben, wiedersehen? Morgen … eigentlich sehe ich sie unentwegt, ich muss bloß von der Terrasse hinüberblicken, trotzdem begleitete mich, wie auch Bianca vorhin bei der Nachhause-Fahrt eine Vorahnung, eventuell, weil der Arbeitstag Tücken aufwies? Tücken ist gutgemeint formuliert … einer von ‚solchen‘ Tagen … negative Gruppendynamik, keine Arbeit und mit einer Hauruck-Aktion stand man mitten im Geschehen … dass die Temperaturen innerhalb von zwei Stunden um zwanzig Grad steigen, war man gewöhnt, aber man verkraftet es jeden Tag anders … 5 Uhr klingelte der Wecker, auch das war keine Neuerung … aufsummierte kleine Ärgernisse schon eher. Die Berge in ihren in morgenfarben getauchten Kleider, entschädigten nur halb … Morgenfrüh … wie schnell die unsichtbare Form der Vorahnung ausgegossen wird mit dem Realitätsbeton … alles geht schnell … wie unvollendete Sätze, ohne Anfang, ohne Ende – bloße Informationsvorstöße, die Veränderungen bewirken … Jorge löst das Projekt auf … übermorgen ist Abreisetag … oh, die Vorahnung und die Berge, die ich nicht mehr sehe, in keinem Rückspiegel und schon gar nicht vor meinen Augen. Sekundenschlaf. Wir sind müde, müde von der zurückliegenden Arbeit, müde von einer unruhigen Nacht, müde … müde. Nur die Faszination an der vorüberfliehenden Landschaft hält uns wach, die Wolkenmassen, die sich über die Bergspitzen in die Täler rollen. Einmal fahren wir unter ihrer bedrohlichen Aufmachung dahin, kurz darauf verschwimmt die Sicht im weißen Rauschen, dass bald unter uns wie ein Fluss, der auf keiner geographischen Karte verzeichnet ist, dahinfließt. Bei San Jose del Pacífico, wo wir vor Wochen eine Wanderung unternahmen, lösen sich die Wolken auf zu Schleiern bis sie die eingeschnittenen Täler vollständig freigeben mit ihren reichen Nadelwäldern, die die Erhebungen spicken wie eine Tracht, keine, die man ausschließlich zu besonderen Anlässen trägt, sondern eine gewohnheitsgemäße, die täglich angelegt gehört. Weiter hinten am Horizont finden sich vereinzelt Wolken, die müde wie wir, an den Bergen hinabgleiten. Sekundenschlaf. Aus dem die Zentrifugalkraft uns weckt. Enge spitzzulaufende Kurven und die Not auf dem Sitz zu bleiben. Wenn sich die Straßenverhältnisse beruhigen, setzt erneut Sekundenschlaf ein. Was ist das? Sämtliche Nadelbäume sind verschwunden, machten Platz für Bananenpalmen und Kaffeeplantagen. Sekundenschlaf. Ich ziehe meine Kleidung aus, alles was der Anstand erlaubt, breche fast in Gelächter aus, als ich den Schal sehe, den ich zur Abfahrt noch brauchte. Es ist stickig, heiß und feucht. Sekundenschlaf. Der Pazifik. Wellen brechen, spülen Surfer an die Küste und wir steigen aus in Mazunte, ein winziges touristisches Pseudo-Hippiedorf. Vielleicht sind es echte Hippies, ich kenn mich da nicht aus mit dem Unterschied was Mode ist und was einem Ideal folgt. Sofort nach Ankunft betten wir uns und schlafen ein, schaffen es aber gerade zum Sonnenuntergang auf die Landzunge Punta Cometa und reiben uns ungläubig den Sand aus den Augen: Buckelwale sprühen Wasserfontänen aus, wir schlafen nicht mehr, wenngleich uns Sekundenschlaf hierherführte.

Sonnenuntergang Punta de Cometa, MAZUNTE

Der Geist reist langsam, der Körper vornweg. So sehr wir uns auf die Rückkehr nach Oaxaca de Juárez auch freuten, durch die kolonialen Straßen zu ziehen, planlos, ohne Zwang nach Sightseeing, uns in bekannte wie unbekannte Marktlabyrinthe zu begeben, einfach sein - ohne Druck sein zu müssen - die ersten Schritte waren ungewohnt. Wir orientierten uns an vertrauten Wandtattoos, aber sie nahmen uns nicht in Empfang, sie starrten geradewegs als kannten sie uns nicht, hätten uns nie zuvor gesehen. Wir nahmen an einem Kurs teil für die hiesig verbreitete Holzschnittkunst, aber auch das brachte uns nicht näher, mich sogar im Gegenteil, es entrückte mich. Unzufrieden über das Ergebnis einer Agave mit zwei Hüten, frustrierte mich mein offensichtliches Nicht-Können, obwohl ich erstmals Schnittwerkzeug in der Hand hielt. Selbstzweifel überkamen mich, ob ich etwas sein will, was ich nie sein kann. Melodramatisches aber ernstgemeintes ‚Gewäsch‘, ich werde meinen künstlerischen Anspruch an mich nie gerecht …

Blick auf die Kirche von Santo Domingo, OAXACA DE JUÁREZ

Ein Wald, der keinen Schatten spendet. Als wir die Höhen nach Puebla, einen für uns neuen mexikanischen Bundesstaat überqueren, schauen wir gebannt (wie auch sonst?!) aus dem Busfenster. Schluchten fallen tief nach den Seitenstreifen hinab, Geröll bildet Berge und auf all dem Auf und Ab ragen zartgrüne Kakteen als Vertikalen empor, die die horizontalen Linien brechen. Wieder kann uns Mexiko landschaftlich überraschen. Als wir aussteigen, singen wir vor Freude mit einem versteckten Vögelchen, doch Stille kehrt ein nach seinem Gesang, ein Adler mit braunen Gefieder fliegt wachend über uns dahin, Zopiloten sitzen auf den höchsten Spitzen der Kakteen, auch sie sind Zeugen der Ruhe, die jener Vogel, der uns begrüßte oder einer seiner Artgenossen, nun bricht. Aus dem aufgewirbelten Staub der Straßen bilden sich betrunken tänzelnde Windhosen und lösen sich wieder auf. Wir schreiten mitten durch die grotesken Riesenkandelaber, verschiedene Wildagave-Arten und Sträuchern. Jede Pflanze scheint hier Dornen, Zacken, Sägen oder Spitzen zu besitzen, egal wie weich sie aussehen mögen. Verführt von der Artenvielfalt an Kakteen folgen wir einem Schotterweg, spazieren durch ein ausgetrocknetes Flussbett. Überall um uns ruhen rundgelutschte Kuppen, bloß an jenen Stellen, wo schroffe Felsen die Oberfläche durchbrechen, wird mit der gleichmäßigen Form gebrochen. Dort oben! Da haben wir bestimmt eine perfekte Aussicht und die Sonne verschwindet und lässt einen dunklen Säulengarten zurück. Wir kehren noch nicht um, wir sind noch im Genießen begriffen. Der werdende Vollmond leuchtet hell genug, aber jede Pflanze hat hier Dornen und den Pfad, den haben wir seit einigen hundert Metern verloren. Wir haben uns verirrt. Das Vorhaben eine ‚Runde‘ zu gehen, brechen wir widerwillig ab, suchen nach Vertrautem, aber die Nacht hat den Kakteen das Individuelle geklaut, sie sehen einer wie der andere aus. Unsere Jacken und Hosen … kein Schritt funktioniert ohne eine erst sanfte, dann aber nachdrücklichere Berührung, die uns zurückhält als sollten wir bleiben, bei denen, in deren Anblick wir uns verliebten. Das selbst verschuldete Abenteuer gehört dennoch nicht weiter aufgebauscht, schließlich finden wir den Weg zurück zu unserer Hütte, trotzdem sind wir nicht von der Natur, die uns umgibt, entliebt, nein. Dieser Wald, der keinen Schatten spendet, aber mannigfache Freuden, so sehr, dass wir den Wecker zum Anbruch des ersten Tageslichtes stellen, um nichts von dem zu verpassen, was typischer mexikanisch kaum sein kann. Kopflos handeln und verschwenderisch lieben ohne auf Gegenliebe zu hoffen, auch das kann reisen bedeuten.

Kakteenwald

Der Deckel eines silbernen Topfes wird gelüftet, Dampfschwaden entsteigen und werden von einem ausgeblichenen Sonnenschirm aufgefangen, bevor sie eins mit dem Stadtäther von Puebla werden. Die Verkäuferin ist dick eingekleidet, denn zu dieser Morgenstunde, in der die Sonne eben erwachte und sich ihrer Strahlkraft erst bewusst werden muss, herrscht merkliche Kälte in den Gassen von Puebla. Sie reicht uns das liebgewonnene Frühstück, den Tamal im Brötchen und füllt einen Becher mit warmem Milchreis, danach einen zweiten mit Champurrado, einem schokoladigen Heißgetränk. Auch jenen Behältnissen entfleuchen Dampfwolken, eindrücklich wie Rauchzeichen. An fast jeder Ecke eines Häuserblocks sind sie anzutreffen, jene, die sich nunmehr schwarz aus dem grellen Gegenlicht abheben mit ihren Lastenrädern, auf denen die schweren Töpfe stehen, darunter die glühenden Kohlen. Diese fliegenden Händler sind emblematisch für den Arbeitsethos, der sich nicht auf Puebla beschränkt, sondern überall bisher in Mexiko hervorstechend ist. Wer Götterspeise zubereiten kann, tut dies und verkauft aus dem schlauchförmigen Eingang zum Treppenhaus seines Mehrfamilienhauses seine Waren. Wir sehen offene Stubenfenster, die Blicke ins Innenleben gewähren, weil auch aus ihnen heraus verkauft wird. Billig von Märkten Obst und Gemüse anzukaufen und teurer in der Innenstadt zu verkaufen ist gängige Methode. Jeder verkauft, wenn nicht Selbstgemachtes, dann Erworbenes. Kaugummi, Lollis, Chips … Süß- und Naschkram. Ein Greis bietet Billigferngläser feil, eine Frau schreit laut, um einzelne Einwegrasierer loszuwerden. Paradoxe Bilder ergeben sich. Bezeichnen sich diese ‚Händler‘ als arbeitend? Es dürfte schwer werden anhand dessen eine Arbeitslosenquote zu berechnen, wo jeder versucht Tinnef in Peso zu verwandeln. In der 9. Avenida von Puebla sind zahlreiche Garagen, aber in keiner steht ein motorisiertes Vehikel, stattdessen beseelen die Flächen Küchen, Bäckereien, Tischler, Schuster, Schlosser usw. Wenn die Rollläden hochgezogen sind, ist offen, wenn nicht geschlossen, so simpel ist das. Dadurch die Mexikaner Lebensraum fließend mit der Arbeitsfläche teilen, gibt es keine Trennung, wie erwähnt: weder räumlich und oft genauso wenig zeitlich, denn einige Rollläden sind nie heruntergezogen. Es wird fern geschaut oder laut Musik gehört bis doch einmal ein Kunde sich zu ihnen verirrt. Arbeitszeit … was ist das? Arbeitszeit wird hier nicht in Rechnung gestellt, weil sie keinen Wert besitzt, nicht zur Ware verkommen ist. Hier wird geschuftet, nicht bis zum Umfallen, sondern auf Abruf. Jede Straße würde neben der Vielzahl an Kirchen und Fliesen besetzten Häusern neue Beispiele zur Fortführung dieser Reihe liefern, aber da unterbricht meinen Gedanken ein Auto, auf dessen Dach notdürftig ein Megafon installiert ist, aus dem in Dauerschleife schlecht verständlich Werbejingles für Tamales dröhnen. Ein Handzeichen würde genügen und der Fahrer würde halten, aussteigen und die Kofferraumklappe öffnen, um sein Angebot zu präsentieren, aber wir sind satt, vielleicht ist er morgen schneller und fängt uns ab, bevor wir einen Fahrrad-Stand erreichen, der uns mittels seinen Dampfwolken zu verstehen gibt, näher zu treten. Unser Gepäck steht vor uns, als warte es darauf weitergetragen zu werden, während wir auf dem Plaza de la Concordia auf einer Bank sitzen. Wir wollen noch nicht weiter, teilen uns lieber eine Flasche Dr. Pepper und überblicken die neue Umgebung – Cholula. Keine zwanzig Kilometer dauerte unsere Fahrt von Puebla, aber wir haben den Eindruck, die viertgrößte Stadt mit ihrer naturgegebenen Hektik hinter uns gelassen zu haben. Die Gebäude sind flacher, die Menschen entspannter, die Luft sauerstoffreicher und das trotz 2300 Höhenmetern. Als wir weitergehen, kommen wir an einem Hügel vorbei, die wahrscheinlich weltweit größte Pyramide. Menschliche Augen nehmen lediglich einen Hügel war, ihren Grabhügel, könnte man meinen, auf dem die spanischen Eroberer demonstrativ eine Kapelle bauten. Demonstrativ sind auch wir, so sitzen wir in einer Brauerei, baten zuvor um eine kleine Führung und überblicken unter einem Vordach den Biergarten und erahnen die Grundrisse des rauchenden Vulkans Popocatépetl, den die Wolkenschichten mehr und mehr freigeben. Grundloses Glücklichsein überfällt mich und ich denke an mich, an die niedergeschlagene Version meiner Selbst nach dem misslungenen Holzschnitt in Oaxaca: Wer ist der Kerl, der sich an einer Kleinigkeit dermaßen zu schaffen macht? Versetze ich mich in seine Lage, denkt er jetzt sicherlich: Wer ist der Kerl, der sich an einer Kleinigkeit dermaßen erbauen lässt? Stets ist einer von beiden abwesend, aber beide haben unrecht: Es handelt sich nie um Kleinigkeiten.

nächtliche Aussicht auf den Popocatépetl, CHOLULA

Denke ich an ein bestimmtes Datum unserer Reise zurück, müsste ich akribisch in den Gedächtniskammern wühlen, um wiederzufinden, was mir bereits gehörte. Als wir zu früh den Colectivo zwischen Cholula und Atlixco verließen, wanderten wir am Seitenstreifen entlang, die landwirtschaftliche Nutzung erfuhr gerade ihren Übergang zu Blumenfeldern unter den gemütlich ausstoßenden Dampfwolken des Popocatépetl-Vulkans; nicht lang mussten wir jedoch warten, bis wir aufgelesen wurden und uns auf der Pick-Up-Ladefläche eines Farmers zwischen zwei Jungen, Hunden, Leitern und anderen Baumaterial wiederfanden und zur nächsten Busstation kutschiert wurden. Ein anderer Moment: Die Sonnenstrahlen streicheln die sich verflachenden Vulkanausläufer, wir stehen erhöht auf einem Kapellenhügel und nehmen die Farbveränderung still in uns auf. Ein wieder anderer Moment: Wir sitzen auf einer Schattenbank, ein Händler bremst seinen kochenden Riesentopf auf Rädern, aus dem er Elotes und Esquites (beides perverse mexikanische Snacks) verkauft und ruft währenddessen sein Sortiment aus. Eins von unzähligen Beispielen einer ungewollten Theaterparade, die passiert, wenn man eins mit seiner Umgebung wird. Doch all diese Bilder oder abgespeicherten Kurzfilme sind belanglos. Früher oder später vergessen wir sie. Im Erinnerungskostüm brennen sich Löcher ein. Trotz dieser Vergesslichkeit, bewahre ich in ihnen das positive Gefühl jener Zeit, obgleich ich es nicht mehr benennen kann.

Bonsái-Museum "John Naka", ATLIXCO

Gelegentlich erheitert Bianca und mich das Gedankenspiel, was jemand denkt, wo wir gerade sind oder was wir gerade in diesem Moment tun? Der Grund dafür ist simpel: Die Abweichung zwischen Vorstellung und Realität wäre enorm. Wer sieht uns schon auf der Ladefläche? Bianca sitzt sogar nur auf dem schmalen Rand des Pick-Ups und hat Mühe Balance zu halten während der holprigen Fahrt. Oder wer sieht uns in einem Bonsai-Museum die Reihen entlang flanieren, sprachlos darüber, was dieses Verbindungsstück zwischen Kunst und Natur schafft? Wer sieht uns in einer Absteige von Unterkunft auf einem Bett sitzen, die spärlich beleuchtet wird von einem chinesischen Lampion während draußen vor der Tür sich die Geräusche aus Kindergeschrei, die Knallfrösche auf den Boden explodieren lassen und einem lautstöhnenden Pornofilm aus dem Nachbarzimmer, überlagern? Vorstellungen regen die Fantasie an, aber sie sind wie unser Erlebtes belanglos. Wir werden nicht alles vergessen, aber das meiste, zurück bleibt dennoch das positive Gefühl, das schon erwähnte Loch, namentlich Belanglosigkeit, was eben dadurch nicht negativ zu verstehen ist. Es ist die Ansammlung an Geburtstagen: Die Mehrheit schön und besonders, denn das soll der Tag ja sein, aber ehrlich gesagt … erinnere ich mich an maximal eine Handvoll von ihnen. Mexiko-Stadt, wir respektierten vor unserer Ankunft diesen Namen und was er mit sich bringt – 20 Millionen Menschen plus/minus die Einwohneranzahl Berlins, denn so genau weiß das keiner. Als wir erstmals aus dem Bus ins Tal blickten, sahen wir das Häusermeer, wo früher Seen ruhten. Die sonst bunte Farbenvielfalt der Gebäude wurde von Grautönen überwältigt. Bis zum Horizont reichen sie und hat man ihn erreicht noch darüber hinaus. Je tiefer der Bus in die Stadt fuhr, desto mehr schnürte es uns die Brust vor panischer Atemnot im Angesicht klaustrophobischer Attacken zu, verknotende Schnellstraßen, in deren Schatten Häuser wie bösartige Tumore metastasieren, ohne Ordnung, ohne Ziel. Weiterbauen, wenn es erforderlich wird. Alles überragende Wolkenkratzer zu deren Glasfüßen Essensstände stehen (etwas Mexikanisches hat sich bis in die Hauptstadt gerettet). Schluss nun mit dieser ganzen erwartbaren Dramaturgie, die sich an den beißenden, doch stadtgegebenen Kontrasten einer Metropole mit diesen Ausmaßen labt! Steht man am Rande einer vielbefahrenen Straße, wird einem schwindlig bei dem Chaos, was auf ihr herrscht, ABER sitzt man in einem Auto und fährt darüber, relativiert sich die Sichtweise. Der Verkehr wirkt gebändigt als folge er doch einer unbestimmten Ordnung. Wir sind eingestiegen, sobald wir aus dem Bus ausstiegen, eine Stadt mit enormem Ausmaß, die erlebt werden will. Wir schlendern durch Roma-Norte - ein Viertel, das kaum grüner sein kann – unter seinen hohen Bäumen, neben Monstera-Pflanzen, die dschungelhaft wirken, Großstadtdschungel eben, aber auch sonst … wir denken: Hier kann man es aushalten.

Skyline, MEXIKO-STADT

Im Café La Habana ist alles, wie zu seiner Eröffnung Anfang der 50er Jahre: Platzanweiser, die Kasse samt Wart, die sepiafarbenen Wände mit Fotografien leerer Stadtansichten, wobei einige Fotos durch Bilder im selben Farbschema ausgetauscht wurden. Ansonsten überdauerte sogar das dunkle Mobiliar mit seinen unbequemen Sitzen, der starren geflochtenen Bastsitzfläche und den übergeraden Lehnen. Die Gläser für Heißgetränke besitzen eine Halterung, die ausschaut als sei eine riesige Büroklammer zurechtgebogen, um einen Henkel zu simulieren, der die führende Hand vor Verbrennung schützt. Was ist mit der Drehtür, die einzig und allein im Kreis anstatt in einen nebenliegenden Raum führt? Sie finde ich in dem Portrait des Café-Innenraums nicht wieder. Fidel Castro und Ernesto Guevara debattierten hier, Octavio Paz sinnierte, wenn er nicht gerade schrieb und Roberto Bolaño gründete den Club der Infrarealisten. Möglicherweise tranken die Vorgenannten lediglich einen Kaffee hier und kamen nie wieder, aber aus naheliegenden Gründen prangen ihre Namen in goldenen Lettern neben der Eingangstür. Ein Ort wie Mexiko-Stadt touristisch kennenlernen, heißt in seine Vergangenheit reisen … die Pyramiden vor den Stadttoren verkünden eine Zeitperiode, von der mehr geschätzt statt gesichert gewusst wird und eine Wallfahrtskirche schlägt die Brücke zwischen Heidentum und christlicher Lehre, als einem Indio die Jungfrau Maria erschienen sein soll. Auf allen Vieren kriechen die Gläubigen in die Kapelle, weinen darüber, dass auch andere viel litten, weswegen sie weniger leiden, aber nicht jetzt, wo Tränen aus den dunklen Brunnenschächten rinnen, so tief, dass der Grund sich verliert. Das Schloss Chapultepec, das als stummer Zeitzeuge Mexikos Geschichte zur Republik und zur Demokratie dokumentiert. Zwischen diesen Anlaufstellen: Denkmäler und Monumente in Gedenken an Mütter und die Revolution als Fremdkörper zwischen den Protzbauten von Banken und bekannten Hotelketten. Wir mögen die bärtige Frau, so bezeichnete einst Juan Villoro diese Stadt in einem Essay, aber die Emotionen, die jene historischen Plätze aufweisen, sind nicht ebenso beständig, wie ihr Baumaterial. Das Sehenswerte eint die Gemeinsamkeit des Sehenswerten. Da vergaß ich den Platz der drei Kulturen nördlich vom Zentrum zu erwähnen, ein Haken mehr im Reiseführer, viel mehr jedoch den daran angrenzenden unscheinbaren Platz, umgeben von Plattenbauten aus deren Balkonen die mexikanische Flagge hängen, die auch bei Starkwind betrübt ihre Symbolik in Falten hüllt. Das Gegenlicht der Mittagssonne blendet uns, sie will anscheinend nicht, dass wir einen Teil der Namen lesen, die auf diesem Platz am 2. Oktober 1968 demonstrierten und erschossen wurden. Staatsverbrechen – wie der Staat selbst zugibt, allerdingt erst Jahre später, nachdem die Verantwortlichen in Verfahren wegen Verjährung freigesprochen wurden. Was ich sagen will: Gibt es einen Ort, der unbedingt in Mexiko-Stadt besucht werden muss, dann diesen. Gänsehaut überkommt uns, wir sind traurig, obwohl wir die Geschichte schon kannten, aber die rege Fantasie macht das Stehen auf den Steinplatten unerträglich grauenhaft. Mit Kreide nachgezeichnete Leichname verblassen, ihrer wurde nie gedacht außer von den Angehörigen. Paralysiert konstatiere ich zu Bianca: „Was man von solchen Besuchen lernen kann, ist, dass wir nicht verhindern können, dass Menschen auf Menschen schießen, bloß, damit wir in unserer Einstellung gefestigt werden, nie selbst den Abzug zu betätigen – für niemand.“ Wir tranken den Habana-Doble und die heiße Schokolade aus und verließen das Café, winkten zum Abschied denen zu, die hier sitzen und bereits saßen. Geschichte und Geschichten schreiben kann, wer will, aber die Emotion, die die unmittelbare Berührung auslöst, gibt dem Besuch seinen unvergesslichen Wert. TLATELOLCO! Cuernavaca, exemplarisches Stadtgefüge, welches nicht weiterempfohlen, aber von uns geschätzt wird. Wer auf seiner Reise solche Städte unbeachtet lässt, wird nichts vermissen, wer sich aber auf sie einlässt, kann etwas gewinnen. Mittelgroß, noch greifbar von ihren Ausmaßen, regiert die Stadt hektisches Treiben mit Ruhepolen, die als sehenswert gelten dürfen, aber teilweise ihren letzten Atem aushauchen. Der Palast des Cortés mit Wandmalereien von Diego Rivera ist seit Jahren geschlossen. Ein Wasserfall inmitten einem der zwei Canyons, die Cuernavaca zerfurchen, wirft sich in Harakiri-Manier über die surrealen Formen des Basaltgesteins. An der Stelle, an der er die Wasseroberfläche durchbricht, spült er den im Becken befindlichen Müll, bunt wie Konfetti, ans Ufer. Die Steinbalustraden bröckeln. Irgendwann war solch ein Ort etwas, nämlich ein touristisches Highlight, bevor er zu einer stinkenden Kloake verkam. Das rauschende Wasser im zweiten Canyon übersprang seine sehenswerte Phase und stinkt bloß. Archäologische Stätten sind durch Maschendrahtzaun abgesperrt, übrig bleiben Haciendas mit ausladenden Gärten, deren Springbrunnen von der umliegenden Verwahrlosung sorglos dahinplätschern. Ein gedeckter Tisch im Brady-Museum bleibt unbenutzt, die Gemälde starren mit den Masken aus aller Welt von den Wänden um die Wette, erzählen von einer Periode berühmter Bankette in Cuernavaca, als die Schönen und Reichen hier residierten. Wir sind weder das eine noch das zweite, nicht schön, nicht reich. Nicht sehenswert, nicht abstoßend, das sind Städte wie Miahuatlán, Tehuacán oder eben diese hier. Wir suchen, was wir brauchen: Tortillerias, Fruterias, Dulcerien, Stände mit Kokoswasser. Morgens Verkäufer von Tamales mit Atole, abends Esquites. Wir finden kurze Gewohnheiten, frönen ständiger Wiederholungen und finden darüber hinaus mehr: Das liebenswerte, das solchen Städten anhaftet, fühlen uns zuhause, werden erkannt dank unserer Routinen und ziehen schließlich weiter, denn jede Gewohnheit, erliegt man ihr über längere Zeit, wird schal, was liebenswert war, wirkt abgelebt – eine bekannte Geschichte …

Jardín Borda, CUERNAVACA

Die Steine beim Aufstieg zur Tepozteco-Pyramide sind übersät vom braunen Blattwerk. Ein Fluss der Trockenheit ohne Stromschnelle und ohne Bewegung. Ohne Bewegung? Überall Geraschel. Ein Eichhörnchen, ein Vogel und manchmal schlägt unverhofft ein Blatt, das zuvor laut gegen seine Geisel, den Ast, klopfte, hart zu Boden. Man erschrickt dabei, da es so unvorhergesehen geschieht und fragt sich: Was war das? Da sieht man das ganze Schauspiel sich wiederholend, diesmal bebildert und tatsächlich war es das Geräusch eins einzelnen Blattes! Sie fallen zu Hauf, denn die Bäume, die sich in diesen engen Spalt schoben, sind reich an ihnen, wenngleich ihnen die Farbe entzogen wurde. Der Blätterregen lässt das ehemalige Flussbett anschwellen, aus dem dunkle Steine ragen, die wir überspringen, nicht mit Leichtigkeit jedoch unnachgiebig bis wir die Aztekenpyramide von Tepoztlán erreichen. Eine Aussicht bis nach Cuernavaca! Strohblond hängen lange Grassträhnen von den runden Stempelkuppen. Wir sind sprachlos, vor allem Bianca, die eine Kehlkopfentzündung auskuriert, die sie stellenweise zum kompletten Schweigen verdammte. Wie sehr man sich gerne mitteilen möchte, es aber nicht kann, daraus entsteht eine Qual, die uns nachfühlen lässt, wie einsam Alleinreisende manchmal sind. Würden wir allein reisen, könnten wir aller Wahrscheinlichkeit nach besser Spanisch, aber das ständige Deutsch reden … Wir sehen über die Hausdächer und sind erstaunt, wie wenig man die Höhenunterschiede in den Straßen erkennt, die von weit oben komplett ausgemerzt und geebnet erscheinen. Wir suchen, die Terrasse unserer Unterkunft, auf der wir sonst sitzen und hochschauen, wo am Rande der Felsen die Pyramide steht. Wir sind aufmerksam, wie das Licht jeden Felsspalt in dunkle Schatten hüllt, wie die Vorsprünge bis zuletzt brennen, bis sie mit dem Sonnenuntergang verlöschen und die Konturen verschwimmen, auseinander und ineinander verlaufen mit dem Ziel eine Einheit zu bilden, ausgeschnitten aus der Umgebung, bis auch sie versinkt und immer getreuer der Farbe der Nacht gleicht und letztendlich verschwindet, als ginge sie, wie wir schlafen. Wir sehen von oben herab und wissen bereits wie wir von unten heraufschauen, Einzelheiten entdecken, die wir als Neuheit wähnen und uns, natürlich auf Deutsch, zuflüstern, so als könnten wir das Naturschauspiel dadurch stören.

Tepozteco-Pyramide, TEPOZTLÁN

Das Widersprüchliche der Natur zeigt sich besonders zur Trockenzeit, wenn die Umgebung nicht reich an grüner Fülle ist. Von Taxco, diese an einem Berghang geschmiegte Stadt, gelangten wir bald in ein Dorf, in dem Esel als herkömmliche Lastenträger genutzt wurden. Ortsausgang sprach uns eine Dame an und bot uns ein Pferd zum Ausritt, aber wir können nicht reiten, gewissermaßen sind wir also noch zurückgebliebener in der Wahl unserer Fortbewegung, aber wir erreichten trotzdem bald die staubigen Wege, die von Zivilisation nichts ahnten. Die Bäume waren kahl und breiteten ihren löchrigen Schirm, der Sonnenflecken auf dem Boden bildete, aus. Das ehemalige Gras, war getrocknet und brach bei Berührung. Als wir die Weite mit unseren Blicken ausmaßen, erkannten wir: Es war überall gleich. Jeder Berg, von der Spitze bis zum Fuß, offenbarte Dürre. Die Luft schwirrte vor Hitze, gerade einmal 9 Uhr. Die mexikanische Sonne, unnachgiebig und erbarmungslos, machte was sie am besten kann: brennen. Die Landschaft unterschied sich in schwarze Schatten und mit einem Bleischleier überzogenen Rest. Als wir einen Kamm überwanden und in ein vorher verborgenes Tal einbogen, erkannten wir grün. Tatsächlich waren es sogar verschiedene Variationen von Grüntönen, die lebendige Ausnahme des Todes, könnte man meinen. Serpentine für Serpentine kamen wir näher und schritten damit tiefer hinab. Die Schirme der Bäume waren bald wieder wie gewohnt schützend über uns gedeckt und ein Rauschen säuselte verträumt vor sich hin. Ausgetrocknete Flussbecken, wo sonst fidel Wasserfontänen durch Moosflechten springen, aber wir gingen unbeirrt weiter, daran glaubend, was wir hörten.

Ein silbernes Band funkelte in der Sonne, ein Wasserfall und daneben ein zweiter, ein dritter, eine unglaubliche Vielzahl. Waren die ersten noch eher Stromschnellen, konnte man nun wirklich von Wasserfällen sprechen, die sich in ein türkises klares Bad ergossen, umkränzt von Wurzelgeflecht und Lianen. Welch eine Farbe, welch ein Flecken Ruhe, das zur Regenzeit vor Sensationstouristen überlaufen sein muss, das aber nun ganz allein uns gehörte. Die Erfrischung tat wohl, wir konnten uns kaum davon trennen, noch einmal sprangen wir ins Nass, schwammen durch einen Wasserfall, ließen ihn auf uns niederbrausen und gelangten in eine Parallelwelt, wo es tropft und nur das Getöse des Wassers gibt. Noch einmal … kann man davon je genug haben? Noch bevor wir beim Rückweg den Gipfel erreichten, waren unsere Badesachen getrocknet, die Haut zartrosa, die die drohende Verbrennung ankündigt, und die Landschaft, wie wir sie am Morgen kennenlernten, gleichsam liebevoll, aber vollständig verwandelt. Wir hatten noch eine offene Rechnung mit dem Izta-Popo-Nationalpark. Genau einen Monat nach unserem ersten Versuch, den wir aus Cholula unternahmen, klingelte der Wecker früh morgens in der verebbenden Dunkelheit zu einem erneuten Anlauf. Mit einem Trugschluss wurde schnell aufgeräumt: Die Anfahrt ist von Mexiko-Stadt aus weder einfacher noch schneller … der Stadtverkehr zum einen, die nicht vorhandenen Umstiege zum anderen. Stattdessen nahmen wir Colectivos, bis wir das letztmögliche Dorf erreichten, fuhren mit einem Mormonen-Zwillingspärchen bis zu ihrer Kirche, hielten dort das erste Auto an und ließen uns mit Äxten und Macheten im Aufbau eines Pickups einsperren – alles schien uns recht, um zum Paso de Cortés zu gelangen, über den die spanischen Truppen die Azteken angriffen. Schon die Ankunft rechtfertigte unseren Aufwand. Der Popocatépetl mit seinem Umkreis an Aschefeldern, die sich auf ihn wie ein Trauerflor legten, erzeugte Eindruck. Sein Ausatmen, dunkle Rauchsäulen, die sich in der Atmosphäre aufrieben bis sie eins mit dem Wolkenspiel wurden. Vom Tal aus Amecameca sahen wir die Silhouetten der beiden Vulkane Iztaccíhuatl und Popocatépetl, wie sie sich über den Baumgrenzen abzeichneten und oben angekommen ahnten wir maximal noch ein paar verstreute Gemeinden, zu dicht war der Smog, der sich wie Nebel bis auf eine bestimmte Höhe schob.

Iztaccíhuatl

Im Nationalpark war die Luft rein, dünn aber rein. Ein paar Kilometer strengten an, wie ein Tagesmarsch des Jakobsweges mit Gepäck. Unsere Schuhe wühlten den sandigen schwarzen Untergrund auf. Kohleablagerungen auf den Zähnen, jeder Halm der Gräser war mit einer dünnen Schicht Asche überzogen, der die Finger färbte und zwischendurch ein stetiges Ausatmen, dann ein Ausbruch! Wir lieben die Natur, gestanden uns jedoch ein, sie nicht einschätzen zu können. Ist es heute ungefährlicher als vor einem Monat? Das Knirschen zwischen den Zähnen wurde zum Normalfall, wir stiegen weiter bergan und erreichten unsere höchste Höhe bei knapp 4000 Metern – höher befanden wir uns nie. Aber die Höhe spielte keine Rolle, die überschaubare Kilometeranzahl genauso wenig, nur dass wir es doch noch in den Izta-Popo-Nationalpark schafften, um uns in der Landschaft zwischen zwei Vulkanen als Mensch mit all seinen Taten wieder klein zu fühlen – nichts könnte großartiger sein.

Popocatépetl

Etwa drei Monate ist es her, dass wir Niederschlag hautnah miterlebten. Es muss im Meditationszentrum in der Nähe Valladolids gewesen sein. Ich kann nur mutmaßen, denn gefühlte Ewigkeiten sind seitdem vergangen. In Deutschland schwankte das Wetter bestimmt etliche Male von Frühjahrserwartung auf Winterbesinnlichkeit. Kann man vergessen, dass es Regen gibt? Gerade schaue ich aus dem Fenster, dass wir während des Tages offenließen (denn was soll schon passieren?), zwischen zwei Neun-Geschössern hindurch. Ein paar Bäume überragen einen wesentlich niedrigeren Gebäudekomplex. Aus einem kleinen Hinterhof ragt gerade noch erkennbar eine Birke - sie zittert. Es ist dunkel bereits vor Sonnenuntergang und weiter hinten, zwischen den Bäumen taucht von ständigen Unterbrechungen unbeeindruckt eine Bergkette auf, über der ein beiger Farbstreifen liegt. Die Wolken fransen aus, vermischen sich mit ihm und als ich die haarfeinen Linien augenscheinlich greifen möchte, grollt der Donner über die Hochhäuser. Ein Blitz lädt mit Spannung die Luft. Wenn wir heute um einen ordentlichen Niederschlag drumherum kommen, dann nicht morgen oder vielleicht nächste Woche, denn wir können ihn zwar getrost vergessen, aber was kümmert es ihn, wenn er sich mit einem Paukenschlag ankündigt? Das Wetter besitzt ein zuverlässigeres Gedächtnis als wir. Da spüre ich den ersten Tropfen auf meinem Knie, der durchs offene Fenster fällt. Wir werden empfangen. Das für häufig eingestreute Wort ‚herzlich‘ lasse ich weg, denn Armin, seine Frau Isabel und ihr Freund Oscar kamen abgearbeitet und mit kohlschwarzen Gesichtern verspätet, um uns von der Bushaltestation in Chignahuapan abzuholen. Jugendliche zelteten am Vorabend und ein Lagerfeuer breitete sich zum Waldbrand aus, welches Mühe kostete zu löschen. Wir fuhren zum Rancho, der Innenraum des Autos roch rußig. Zwei Border Collies sprangen vor Freude – hier wäre herzlich die korrekte Bezeichnung. Wir lernten einander beim Tee kennen, aber auch das Bauerngehöft und die Fläche der 10 Hektar, die dazugehören. Genau wie Schafe, Hühner, ein Schwein, zwei Katzen und die erwähnten Hunde. Vor der Haustür grasen Kühe und Pferde auf den goldgelben Kuppen, hinter denen bei Nacht die Stadtlichter von Chignahuapan hervorfunkeln. Die Kälte ist unleugbar. Auf unserem Bett lagen vier Decken, die uns wie Lawinen bedeckten. Den Kamin im Zimmer zu befeuern, das lohnte nicht mehr. Am nächsten Tag werden wir Waldboden und Schafsdung sammeln, um einen idealen Nährboden für die zu pflanzenden Obstbäume herzustellen. Mühsam ist die Arbeit, die so schnell vernichtet ist, denke ich, auch wenn kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Waldbrand und dem Pflanzen der Obstbäume besteht, aber irgendwie ist sie doch für mich die sich ständige wiederholende Geschichte von Tod und Leben, Ende und Neuanfang, Reisen und Freiwilligendienst.

Rancho Santa Rosa, CHIGNAHUAPAN

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