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27.06.2022 - 18.07.2022

Aktualisiert: 8. Mai 2023

Leipzig – Mehltheuer – Bamberg – Erlangen – Nürnberg – Regensburg – München – Trieste – Mestre – Venedig – Aquileia – Padua – Modena – Reggio Emilia – Parma – Bologna – Montecatini – Florenz – Arezzo


Ich bin das Flussbett, über das die Erinnerungen der Vergangenheit und die Wünsche der Zukunft hinwegtosen, jedes Teilchen nah doch ungreifbar fern. Ein poetischer Einstieg, das klingt gleichermaßen willkommen wie gewollt, zu gewollt nach meinem Geschmack, für dieses erste Lebenszeichen, aber dies ist genau jene Metapher, die omnipräsent meinen Kopf besetzt, seitdem ich das letzte Mal die Bürotür hinter mir ins Schloss fallen hörte. Ich schreibe sie darum nieder, nicht um schön zu schreiben, sondern um sie endlich zu vergessen.


Am Morgen des 27. Juni 2022 wachen Bianca und ich zeitgleich nebeneinander auf. Es ist Montag. Nasenspitze an Nasenspitze liegen wir im Bett und ich flüstre ihr in den versiegenden Traum: „Es ist 7:45 Uhr und in einer Viertelstunde müsstest du den Patienten die Praxistür öffnen.“ Vervollständigend ergänzt sie mich „Und du würdest bereits seit einer Viertelstunde in die Tastatur Aufträge eintippen, oder was du da machst.“Als nächstes würden wir klären, was innerhalb der kommenden Tageszyklen anstünde und was wir am kommenden Wochenende gedenken zu unternehmen, aber dieser Montag ist völlig anders: Wir begeben uns ins Bürgeramt Leipzig-Gohlis, für welches wir noch im Bett liegend einen Termin vereinbarten, werden begrüßt von typisch deutscher Bürokratiefreundlichkeit, bei der zwischen „Kann mir mal bitte jemand helfen? Ich geh hier vorne unter bei den ganzen Leuten“ und „Natürlich helfe ich ihnen beim Kopierer, ich habe gerade eh nichts zu tun“ neun Minuten liegen. Insgesamt verläuft der Termin unspektakulär. Wir verneinen den Wunsch an künftigen Wahlen auf Bundesebene teilzunehmen und bekommen zu hören, dass der Bearbeiterin Abmeldungen aus Deutschland kaum unterkommen, bislang meist Um- und Anmeldungen. Wir müssen eine Folgeanschrift angeben, die wir nicht besitzen, aber die Bearbeiterin drängt (wahrscheinlich, weil ihr Dropdown-Menü kein Leerfeld zulässt) also geben wir Trieste als Ort an, das genügt plötzlich. Die Reisepässe blieben unverändert, lediglich mein Personalausweis bekam einen schicken neuen Aufkleber „Keine Anschrift in Deutschland“. Früher, als ich am Bankschalter stand und ein potentieller Kunde mit genau solch einem Hinweis ein Girokonto eröffnen wollte, wusste ich: ein unangenehmes Gespräch steht bevor. Nun, da es mich betrifft, ist selbstverständlich alles anders, jetzt ist dieser Aufkleber ein Symbol neu errungener Freiheit.


Aufbruch, LEIPZIG

Wohnungsübergabe. Das Wort ist genauso schnell ausgesprochen, wie der Termin am 30. Juni um 10 Uhr heranrückte. Keine Beanstandungen, dafür ein paar neugierige Fragen, wohin wir wollen, nachdem der Herr die vollgepackten Rucksäcke im Flur stehen sah. Ein allgemeiner Abriss … Bayern, Italien, Mittelmeerküste, Frankreich, Spanien Portugal und irgendwann Lateinamerika, reichte als Antwort aus. Nachdem der Stromzähler abgelesen wurde, bekam jeder von uns einen kräftigen Handschlag, der unsere Obdachlosigkeit besiegelte. Wir hatten zwar eine Ahnung, wohin es uns demnächst führt, aber keine festen Unterkünfte.

Die erste Übernachtung schließlich in Mehltheuer bei meiner Großmutter auf dem Fußboden des ehemaligen Kinderzimmers meiner Mutter, mit der wir am Abend zuvor essen gingen und dann kam der schwere Abschied, der seine Schatten im Voraus über dieses Treffen lag. Karge Wortwahl, als sei die Trichteröffnung namens Mund mit einer Vielzahl an zu sagenden Dingen verstopft und nichts entfleucht ihm außer: Alles Gute. Was gibt es mehr? Solche filmreifen Situationen sind selten, am besten man möchte keine Schnulze daraus machen, aber ohne Tränen geht es eben auch nicht. Ich probierte bei meiner Mutter, wie meiner Großmutter und sämtlichen Verabschiedungen ein „Auf Wiedersehen“ zu vermeiden. Das ergibt keinen Sinn. Zum einen, weil wir uns sämtliche Optionen und dazu zählt eine Rückkehr (wohin auch immer) offenhalten und zum anderen, weil die Vermeidung des Ausdrucks, unterschwellig die Hoffnung auf genau jenes Ereignis zerstört. Wo werden wir uns Wiedersehen? Die nächste schwer beantwortbare Frage …


Die Taktzahl an Ortswechseln ist so hoch wie unser Puls, fast müsste man an eine Flucht glauben und nicht an den Beginn eines entschleunigten Lebensentwurfs. Wir spazieren durch Bamberg, arrangieren die letzten Verabschiedungen in Erlangen und Nürnberg, fahren weiter nach Regensburg, ruhen in einem Biergarten bei zünftiger Blaskapellenmusik und beschließen doch weiter nach München zu fahren. Auf dem Weg dorthin gelange ich zu einer ersten Erkenntnis.

Ich starrte aus dem Zugfenster. Pittoreske Kapelle in bayerischer Musterlandschaft. Es gibt viel Bestaunenswertes zu verpassen, als sei ich im Urlaub auf dem Weg zu einem (Zwischen)Ziel, gehören Augenblicke tunlichst konserviert für die Phase des „Nicht-Urlaubs“. Zu groß ist noch die Faszination des Unterwegsseins, die verhindert einfach zu sein … im Geschehen leben, statt schlichter Betrachtung. Ein Mensch sitzt in einem Zugabteil und rauscht durch eine bayerische Musterlandschaft mit pittoresker Kapelle … so müsste es lauten, wenn jemand von mir erzählt, verbunden mit dem Sichtbaren. Da hilft es ein Buch aufzuschlagen und zu lesen, um mich loszulösen von meinem Betrachter-Dasein, ich will eintauchen in die Szenerie.

Prinzregent-Luitpold-Terrasse, MÃœNCHEN

München zieht uns an und stößt ab. Das Kulturangebot ist enorm. Jeden Sonntag, so auch an diesem 3. Juli, ist das Eintrittsgeld in den Pinakotheken auf einen Euro reduziert. Die ausladenden Säle mit Rubens Exponaten drücken für mich eine fleischige Frivolität aus, die mir oft in diesem gesamten Millionengroßen Mikrokosmos begegnet. Die Erinnerungen an München, bisher bruchstückhaft, beginnen sich zu vervollständigen. Die Isar, ein lebendiger Quell mit seinen Auen und schattenspendenden Brücken. Hier beweist man sich, indem man gegen die Strömung schwimmt, gegen sie ankämpft und danach den Anschein erweckt sich treiben lassen zu wollen, weil man das genauso wollte – Mia san Mia, der Rest ist egal. Die Biergärten sind zu jeder Zeit gut besucht, frühes Trinken zeugt hier anscheinend von Charakter und der englische Garten gleicht, trotz seines nur dezent unterdrückten Verkehrslärms, einem Ruhepol. Absurd, genau wie die Aussicht von der Prinzregent-Luitpold-Terrasse auf den Feierabendverkehr der Stadt, was trotz eines quirligen Naturells merkwürdig beruhigend wirkt.


Auch das Wetter in München war kontrastreich. Am Morgen aßen wir (aufgrund Biancas vom ehemaligen Arbeitgeber subventionierten Lidl-Gutscheine) veganes Bananen-Walnusseis auf der Hackerbrücke beim ZOB, während wir am Abend dorthin zurückrannten, überrascht von einem Sommergewitter. Es geschah auf der Höhe der Festwiesen, auf denen bereits erste Vorkehrungen für das Oktoberfest getroffen wurden und bedrohliche Stahlgerippe gegen den dunkelblauen Himmel abstachen. Der Sturm verdrehte den Linden mit ihren fallsüchtigen Blüten den Kopf und beschleunigte unseren Schritt, der das unvermeidbare nicht aufhielt. Etwas abgetrocknet teilten wir uns eine Schlaftablette, um die Zustände des Fernbusses, die stets ein bisschen an Massentierhaltung erinnern, zu überstehen. Eine Nachtfahrt von 23 Uhr bis 5:30 Uhr, in denen ich dank pharmazeutischer Unterstützung lediglich in den Pausen aufwachte, um den Rücken zu dehnen … Salzburg, immer noch Gewitter … Villach, kein Regen spürbar … Udine … 25 Grad weit vor Sonnenaufgang und ich streiche mir die letzten Lindenblüten Münchens aus dem Haar – Grenzen überwinden, nichts könnte schöner sein und lässt einen mäßigen Schlaf vergessen … Ankunft in Trieste.

Mole Audace, TRIESTE

Auf den Müllwiesen des sonnenverbrannten Bahnhofsvorplatzes wachen die Obdachlosen auf. Irgendwie belustigend, wenn ich uns als eine Familie betrachte, aber nicht deshalb werde ich angesprochen. Nein, ich bin weder Franzose, noch Engländer, ich habe auch keine Kippe, nur gute Laune. 2017 schrieb ich ein Essay über den ersten Eindruck anhand des Beispiels von Trieste, welches wir damals lediglich durchquerten. Die Stadt käme auch beim zweiten Eindruck genauso schlecht davon, diesmal würde ich jedoch freundlicher schreiben, zum Beispiel würde ich die Mole Audace, auf der wir Studentenfutter zum Frühstück naschen, erwähnen, während ein Geiger den Sonnenaufgang musizierend begleitet. Ach, die Schönheit Italiens! Kommt her, die Sonne lacht.


Wie Urlaub fühlte sich das Unterfangen von Beginn an nicht an, wobei ich mich gelegentlich mit der Frage ertappe, wann es zurück geht? Bei ‚zurück‘ würde man automatisch an zuhause denken, aber wohin können wir zurückkehren? Zu einem Alltag vielleicht, einem gewohnten Ablaufplan, der die Zeit ohne festgeschriebene Planung mit einkalkuliert. Urlaube folgten bislang dem gleichen Schema: Anreise – Erleben – Abreise. Gelegentlich wiederholte sich dieser Plan innerhalb eines Tages, wenn das Zwischenziel nicht mehr hergab. Paradox oder anders geschrieben: Das Obst wurde ausgequetscht bis jeder Tropfen Saft in einem Becher gesammelt und auf einen Zug ausgetrunken wurde. Saft ist dafür ein schlechtes Beispiel, besser ist Bier. Bier war eine gewohnte Konstante in jedem Urlaub, es gehörte zu wunderschönen Aussichten, genauso wie zum Abschluss eines jeden Tages. Darauf verzichten hieße, die Sahne auf dem warmen Apfelstrudel vergessen – unverzeihlicher Gedanke. Daran festzuhalten, und gezielt nach Lokalitäten im Internet zu suchen, die uns diesen Genuss erfüllen, hieße weiter einem Alltag nachhängen, den wir vernünftigerweise ablehnen sollten. Das Leben Leben sein lassen, das klingt nach einem erstrebenswerten Alltag, wenn der Begriff Alltag dabei überhaupt noch zutreffend ist. Ich merke, dass wir davon noch ein ganzes Stück entfernt sind, was nicht schlimm ist, der Start unserer Reise durfte durchaus Anwandlungen von Urlaub besitzen, aber gern sollte sich Tag für Tag Stück für Stück von dieser alten Normalität abschälen, sodass die Stunden in ihrer Urform erhalten bleiben und nicht egoistisch ausgequetscht werden müssen.


Am südlichen Inselufer von Venedig auf der Viale Giardini Pubblici schweift der Blick über saftig grüne Hecken und marmorierte Terrassen hinüber zum Markusplatz. Ständig fahren neue Fähren unterschiedlicher Größen, aber in ihrer Kapazität gleichsam überfüllt, über die weltberühmte türkise Lagune. Im Wasser schwimmen Getränkekästen, leuchtendgelb wie Schwimmwesten, die Flaschen planschen darum verteilt, wie über Bord gegangenen Passagiere, nur gelassener. Gäbe es Pfand in Italien, könnte ein ambitionierter Flaschensammler problemlos die Hälfte eines 9-Euro-Tickets in Deutschland verdienen. Trotz dessen, dass die vorgenannten Beobachtungen ein Naserümpfen verursachen, liebe ich es nach fünf Jahren wieder in Venedig zu sein. Wenig hat sich seitdem verändert. Die angeblich

Alltag, VENEDIG

eingezogenen Delfine, haben ihren Mietvertrag einseitig gekündigt, eine einsame Qualle schwimmt statt ihnen in den Kanälen als verwaister Verwalter. Man kann nicht behaupten, dass ich diesen Idealblick für Venedig in Anspruch nehme, wie ein Canaletto, dessen Stadtansichten wir erst noch in München bestaunten. Sehenswürdigkeiten, selbst Speerspitzen wie der Dogenpalast, wirken abgewohnt und sanierungsbedürftig, ABER durch die schummrigen Gassen vor dem ersten Tageslicht zu ziehen, betrunkene Italiener trällernd den Weg kreuzen zu sehen, wie sie Italo-Hits von der Ponte dell’Academia schmettern, oder der Zeitungsmann, wie er seinen Stand eröffnet und den Stammkunden das gewohnte Papier lächelnd in die Hände drückt, oder die Arbeiter, die ihren zehnten Morgen-Espresso schlürfen, bevor sie endlich den Arbeitsweg antreten, oder wie der Inhaber eines Kommunistenkaffees seine Außenfahnen übertrieben geraderückt, bevor ein Windzug sein Werk vernichtet, oder die mühseligen Kahnanlieferungen der Waren, oder die mühseligen Kahnablieferungen von Sperrmüll wie Hausmüll im Allgemeinen, oder der Postbote, der Instruktionen nicht von der Gegensprechanlage, sondern von einem geöffneten Balkonschlund empfängt, für dieses intakte Alltagsleben, liebe ich Venedig, dass ich früher für eine reine touristisch aufbereitete Museumsinsel hielt. In dieser Stadt könnte ich leben. Allabendlich heimkehren unter eine mit Weinranken überwucherten Pergola, später die Tür öffnend und behaupten zuhause zu sein, aber ich wüsste: In einer überschaubaren Wochenanzahl möchte ich weiterziehen, um an mehr als einen Ort zu leben.


Wie weit können Kontraste auseinander liegen? Da wäscht man auf einem Campingplatz bei Mestre erstmals seine Wäsche per Hand, liegt wie ein Hippie vor dem klapprigen Holzbungalow und isst zu psychodelischer Rockmusik einen Brotsalat und bestaunt wenig später die ausufernde Pracht eines Venedigs! Manchmal sind die Unterschiede weniger offensichtlich, liegen aber genauso weit auseinander.

Die Hosteltür in Aquileia war verschlossen, die Rezeption öffnete erst in zwei Stunden, wir pusteten als Reaktion einen Strandball, der eine Weltkugel darstellte, auf und verspielten wie Kinder im Schatten eines hochgewachsenen Baumes die Zeit – für diese Art Ernsthaftigkeit kündigten wir unsere Jobs. Aber wieso verschlug es uns in dieses Niemandsland zwischen Trieste und Venedig? Nunja, zu Beginn meiner Ausführung muss ich erwähnen, dass wir Aquileia nie korrekt aussprachen. Angefangen beim hektischen Fahrtkartenkauf in einem Café, wo wir unser Ziel nennen mussten bis … naja eigentlich immer, sobald wir in die Verlegenheit kamen, den Ortsnamen auszusprechen und das obwohl das Dorf bekannt sein müsste, denn es gibt an, ein zweites Rom zu sein, zumindest gemessen an seinen bedeutenden Ausgrabungsstätten.

Concretion-Festival, AQUILEIA

In Wirklichkeit ist Aquileia ein Durchfahrtskaff zum Küstenabschnitt der Adria, dass irgendwann archäologisch entdeckt wurde, von dem der Großteil aber nach wie vor nicht freigelegt ist. Eine vielbefahrene Hauptstraße führt durch das Dorf mit seiner ikonischen Kirchturmspitze, die man von überall aus sieht. Die Gemeinde wirbt mit Kultur und deswegen reisten wir an, wenngleich unsere bisherige Route auf der Landkarte chaotisch wirken muss, denn vom 8. bis zum 10. Juli fand die erste Ausgabe des Concretion-Festival statt, ein Post-Rock Festival mit klangvollen Band-LineUp, auf welches ich durch sein nischiges Szenedasein nicht näher eingehe … nur so viel: mit Beginn der Musik verfloss ich in einen transzendenten Zustand des immerwährenden Glücksgefühls, traumhafte Klangwogen zum Eintauchen, ein Genuss, der dem abstrakten Gefühl von Freiheit nahekommt, das aber - um auf das Thema mit den Kontrasten zurückzukommen - mit stechenden Schmerzen durchsetzt ist, denn eigentlich sollten wir diese Tage zu dritt verbringen mit einem Freund, von dem wir uns allerdings schon in Erlangen verabschiedeten und der uns leider nicht begleiten konnte. Musik macht mich sentimental, vielleicht, weil ich weiß, dass wir nun allein sind, aber schaue ich an meine Seite und sehe das wunderschöne Lächeln Biancas, wird klar, dass dieses zu zweit alleine, eine Welt bedeutet, derer ich nie müde werde. Wie passend! Da fliegt zum Hauptact des ersten Tages ‚God Is An Astronaut‘ eine Sternschnuppe über die Bühne. Ja, die Wirklichkeit kann extrem kitschig sein.


Was für Venedig die Kanäle, sind für Padua die Arkaden. Venedig? Wo waren wir eigentlich gestern? Von wo sind wir heute Morgen gestartet? Und überhaupt, welcher Tag ist heute? … Aquileia, am Montag, den 11. Juli. Seltsam, so schwer wie der Rucksack, wiegt unser Handgepäck der Erinnerungen noch nicht, es ist nur so, dass Zeit und Orte mehr an Bedeutung verlieren. Wir betrachten sie, wir leben in ihnen, atmen sie ein und da … verschwinden sie? Nein, es bedarf lediglich einer gründlichen Ordnung und stapeln wir die Eindrücke von Venedigs Kanälen auf einen Haufen unseres Gedächtnisses und die mannigfachen Arkaden von Padua auf eine höhere Nummerierung, dann erhalten wir eine Chronologie, ein imaginäres Fotoalbum. Recht bedacht, lehne ich das ab, ich bin zufrieden nicht zu wissen, von wo ich losfahre und welcher Wochen- oder Kalendertag ist. Was zählt sind die kühlen Arkaden Paduas – fast – denn plötzlich erinnere ich mich an gestern und die Schwierigkeiten eine Unterkunft zu finden. Die Preise sind horrend, vor allem wenn man von seinen Ersparten lebt. Egal ob gewöhnliches Doppelzimmer, Doppelzimmer mit Gemeinschaftsbad, zwei Einzelbetten im gemischten 12-Personen-Schlafsaal … Europa ist teuer, soweit keine Neuigkeit, aber es gestaltet die Suche je spontaner wir uns fortbewegen abenteuerlicher. Vier Couchsurfinganfragen unbeantwortet, das Zelt auf meinen Rücken lechzt nach Einweihung … noch nicht … wir finden eine Übernachtungsmöglichkeit für knapp 50 Euro in Modena. Das ist nicht gut und das ist nicht schlecht, aber beruhigend genug, um von den schattigen Arkaden Paduas zu schreiben.


Wie fühlt sich die Freiheit an? Offen gestanden, habe ich Formen einer Antwort, direkt verworfen. Ich glaube die Freiheit ist ein unerreichbarer Superlativ.

Es ist heiß, heißer, am heißesten – wann ist es am heißesten, wenn nicht bei 35 Grad Schattentemperatur? Man stirbt schließlich auch nur einmal. Der Stoff der Kleidung klebt, wo er die Haut berührt, die glitschig wie ein Fisch anmutet. Würde ich beispielsweise an meinem Arm probelecken (was ich natürlich unterlasse), würde ich feststellen, dass ich ein maximal versalzenes Gericht abgebe. Wenn morgen 40 Grad wären, ist es dann am heißesten? Selbstverständlich. Praktisch, weiß ich dies erst morgen.

Wenn ich die Arkaden von Padua rühme, dann als wären sie einmalig, so als gäbe es nirgends auf der Welt mehr von ihnen, wenn ich aber durch Bologna flaniere, gerade einmal 100 Kilometer in südwestliche Richtung, und unentwegt unter malerischen Säulengängen wandle, wie statthaft ist mein Superlativ von gestern?


San Luca Kirche, BOLOGNA

Eine Arkade reicht allein vier Kilometer vom mittelalterlichen Altstadtkern bis zur barocken San Luca Kirche, von deren Hügel man auf die Ziegelsteinlandschaft schaut. Hier sitze ich nun und suche die höchsten Türme Bolognas, die mir vorhin noch imponierten und die jetzt in der roten Masse verschwinden. Zwischen diesen beiden Eindrücken liegen zwei Stunden. Ich fühle mich nicht frei, keineswegs, aber ich fühle mich befreit und das trotz der einengenden Hitze der Emilia-Romagna. Dem gleichnamigen Fluss, der normalerweise durch Parma fließt, ist der messbare Superlativ ohnehin egal und wenn morgen 40 Grad wären, bleibt er dennoch ausgetrocknet.


Der Himmel über Florenz ist weiß, nicht, weil er von Wolken bedeckt, sondern weil er durch und durch ausgebrannt ist. Ihm entgegen strecken sich spitz aufrechtstehende Zypressen, Revoluzzer gegen die italienische Hitze, als Scherenschnitt in die Morgenlandschaft gezeichnet, oder auch als Symbole des Trotzes, wie die Gebäude, die die Luft anhalten, bis ein weiterer unerträglicher Tag für sie vorüber ist. Ihrer Statik steht der wuseligen Dynamik der Besucherströme gegenüber, nicht nur der charakteristische Duomo, sein dazugehöriger Turm, die Ponte Vecchio oder die Uffizien, ausnahmslos jeder Palazzo mit irgendeiner Kunstaustellung verdient einen Besuch. Die Stimmen der Reiseführer überlagern sich, die Fahrräder klingeln hektisch, hektischer als die Automobile, deren Fahrer froh sind überhaupt durch die verwinkelten Gassen zu passen. Eine einbeinige Heuschrecke zirpt dicht an einem noch kühlen Stein der Bordsteinkante gepresst. Ich bin ihr Nachbar und kann es mir leisten nichts zu tun. Wie wunderbar unverbindlich ist es, eine Stadt erneut zu sehen! Was ich sehen wollte, sah ich bereits, nun lasse ich meinen Blicken Auslauf, seht wohin ihr wollt, ich reflektiere nur … am Piazza della Signoria wurde ich wie eine Taube hochgescheucht, deswegen sitze ich neben der Heuschrecke, aber wie die unliebsam gefiederten Stadtbewohner kehre ich wieder, denn meine Augen haben fliegen gelernt und was einmal fliegt, das geht nicht mehr. (Ergänzung: Kurz bevor Bianca und ich aufstanden, wurde die Heuschrecke, die weitersprang unter der Schuhsohle eines Touristen zertreten. Ihr verbleibendes Beinchen steht nun ruhig ab.)


Ein bis zum Rand gefülltes Glas, in das ständig neu eingegossen wird, läuft folglich über. Das sind meine Augen - gut nur, dass ich so durstig bin! Lass uns spazieren, sage ich zu Bianca, die Sonne steht im Begriff hinter den mittelalterlichen Gemäuern Arezzos unterzugehen, das ist die beste Zeit. Die Kleinstadt mittags zu unserer Ankunft ausgestorben, lebt plötzlich. Das Eis, welches irgendjemand vor unserer Tür fallen ließ, trocknete bereits, trotzdem gehen wir einen weiten Bogen um die klebrigen Überreste. In Italien ist jeder unsachgemäße Verlust an Gelato ein Begräbnis wert. Wir sitzen auf der Piazza di Sant’Agostino, schlürfen genießend an einem Bier und verfolgen das Treiben, sehen die Jugendlichen pubertären Kram machen, die erste Zigarette usw. (wieder werde ich angeschnorrt … meine Aura muss etwas Rauchiges haben); Männer die ihre Frauen und Frauen, die ihre Männer ausführen – ja, da gibt es augenscheinliche Unterschiede; einen Kerl, der seine vierte Flasche Bier akkurat wie Soldaten in einer Reihe auf den Brunnenrand positioniert; ein Kind, welches voller Enthusiasmus gegen eine Plastikflasche kickt und ihr hinterherrennt, hoch und runter, denn die Piazza kippt schräg ab, was in Arezzo so üblich zu sein scheint. Eventuell ein Perspektivwechsel, aber wir bleiben sitzen, trinken noch ein Bier, wenngleich das bedeutet, die zwei Tresendamen der Brauerei beim Singen zu stören. Kein Licht am Himmel, dafür fließt sein künstliches Geschwisterchen aus den Duschköpfen der gotischen Laternen und erhellt punktuell Plätze, wie in einer Theateraufführung. Neben dem Kartenspielen denken wir uns Geschichten für die Protagonisten aus. Wir sind glücklich, doch darauf kommt es gerade nicht an. Wir konzentrieren uns auf das, was wir beeinflussen können und zwar, dass jeder Tag eine Befriedigung ist.

Koloss der Apenninen, FLORENZ

Neben unzähligen Spaziergängen und damit einhergehenden Beobachtungen, besuchten wir die Alte Pinakothek in München, moderne Kunstinstallationen in Venedig, erlebten ein mehrtägiges Musikfestival in Aquileia, wunderten uns über die groteske katholische Kirche, die in Padua unter anderem die Zunge des Heiligen Antonius ausstellte, ließen uns durch Bologna führen zu einem biografischen Rundgang zur Ehren Pier Paolo Pasolinis, schafften es in die florentinischen Uffizien und durchmaßen stadtauswärts eine Gartenanlage der Medicis mit der Skulptur vom Koloss der Apenninen, der liebevoll seinen indischen Lotus goss. Aber jedes Erlebnis für sich genommen, würde keine Befriedigung verschaffen, erst in Verbindung mit Schweiß, den wir auf den Weg dorthin ausdünsteten und die Angst vor Erkältungen beim Wechsel in die viel zu kühl klimatisierten öffentlichen Verkehrsmittel, es sind die Blasen an den Füßen, blaue Flecke und Abschürfungen an den Hüftknochen, die das Gepäck verursachte, die das Erlebte vollkommen machen.


Wir wissen, dass das Leben, wie wir es gerade führen, nicht aufrechterhalten wird. Das statische Leben bröckelt und zum Vorschein tritt eine dynamischere Lebensweise, die wir noch nicht wagen abzuschätzen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wir sind auf dem Weg!




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